Dr. Wolfgang Weidner Dr. Wolfgang Weidner

Der Sokratische Dialog in Mediation und Coaching

„Der Sokratische Dialog – Standardwerkzeug der Kognitiven Verhaltenstherapie – ist auch geeignet für Coaching und Mediation, insbesondere bei Menschen mit negativer Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Person, ihrer Umwelt oder der Zukunft. Dabei spielen oft fest verwurzelte Glaubenssätze eine Rolle, die manchmal so stark Teil der Identität dieser Menschen werden, dass dadurch eine „Beratungsresistenz“ die Folge ist, die die Probleme dieser Menschen langfristig aufrecht erhält. Der Sokratische Dialog versucht nicht zu überzeugen sondern die Glaubenssätze zu erschüttern. Das macht dieses Werkzeug so wirksam.“

Bei der Sokratischen Gesprächsführung soll der Klient durch die geleiteten „naiven” Fragen des Therapeuten seine alten Sichtweisen reflektieren, Widersprüche erkennen, selbstständig funktionale Einsichten und Erkenntnisse erarbeiten und ihre alte, dysfunktionale Ansicht zugunsten der eigenverantwortlich erstellten aufgeben. Hier ein praktisches Beispiel aus der Mediationspraxis.

Beispiel für die Anwendung des Sokratischen Dialogs

In einer Firma werden mit den Mitarbeitern jährliche Zielvereinbarungen getroffen. Beim Beurteilungsgespräch weigert sich der Mitarbeiter zu unterschreiben, weil er sich ungerecht beurteilt fühlt. Der Vorgesetzte beteuert, für alle Mitarbeiter dieselben Beurteilungskriterien anzuwenden. Der Mediator setzt den Sokratischen Dialog ein zur Lösung des Konfliktes. Hier eine Kurzfassung:

1.) Thema auswählen

Mediator (Med) an Mitarbeiter (MA): „Sie empfinden die Beurteilung durch Ihren Vorgesetzten (V) als ungerecht. Die Verletzung Ihres Gerechtigkeitsempfindens verursacht Ihnen Emotionen wie Wut, Ärger und Angst. Deshalb scheint der Begriff Gerechtigkeit für Sie wichtig zu sein.”

MA: „Und wie!”

Med (an V): „Ich möchte auf Ihr ABC-Modell zurückkommen. Sie sagen, dass Sie die Leistungen aller Mitarbeiter beachtet und daran die von MA beurteilt haben. Glauben Sie, dass Ihr Verfahren gerecht ist?”

V: „Allerdings! Ich achte streng darauf, dass ich ausschließlich die vereinbarten Leistungen betrachte und Sympathien und Antipathien völlig raushalte.”

Med: „Der Begriff Gerechtigkeit scheint also für Sie beide wichtig zu sein. Ich möchte herausfinden, ob Sie dieselbe Vorstellung davon haben. Einverstanden?”

Beide stimmen zu.

2. a) Erster Definitionsversuch von MA

Med (an MA): „Was verstehen Sie unter Gerechtigkeit?”

MA: „Wozu soll das jetzt gut sein?”

MA sträubt sich gegen die Diskussion. Stavemann hat für diesen Fall ein Beispiel gebracht, wie man einem Klienten klarmachen kann, dass diese Wortklärung außerordentlich wichtig ist:

Med: „Stellen Sie sich vor, ich wollte Sie jetzt um Rat fragen, was ich gegen meine Unpünktlichkeit tun kann. Ich wäre ja gerne pünktlich, aber es gelingt mir nicht, weil ich so kautelig bin. Was würden Sie mir raten?”

MA: „Erst mal müsste ich wissen, was kautelig sein soll!”

Med: „Wozu?”

MA: „Na, sonst weiß ich ja nicht, was Sie meinen.”

Med: „Sehen Sie, deshalb muss ich wissen, was Sie unter Gerechtigkeit verstehen. Sonst weiß ich nämlich nicht, was Sie damit meinen.”

MA: „Okay, Gerechtigkeit ist ganz klar: gerecht ist, was für alle gleich ist, egal, wer es ist, woher er kommt und welche Beziehungen er hat. Gerecht ist, wenn Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt wird.

3. a) Konkretisieren und Alltagsbezug herstellen

Med: „Haben Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrem Alltag?”

MA: „Na klar, genau diesen Streit hier: gerecht ist, wenn gleiche Leistung gleich beurteilt wird!”

2. b) Erster Definitionsversuch des V

Med (an V): „Wie sieht Ihre Vorstellung von Gerechtigkeit aus?”

V: „Ich schaue ausschließlich auf die vereinbarten Leistungen der Mitarbeiter und halte Sympathien und Antipathien völlig raus.”

3. b) Konkretisieren und Alltagsbezug herstellen

Med: „Was genau ist daran gerecht?”

V: „Na, dass alle nach dem gleichen Maßstab beurteilt werden.” Eine weitere Konkretisierung bis auf die Frage nach dem Maßstab (hier weggelassen) scheint nicht notwendig. Deshalb zum nächsten Schritt mit der Widerlegung und wegen des Machtgefälles bei V.

5. b) Aufgestellte Behauptung von V disputieren

Med: „Sie meinen, alle werden gleichermaßen behandelt. Was, wenn einige sich mit den Leistungen anderer schmücken? Sie sehen nur das, was unmittelbar in Ihrer Gegenwart geschieht. Andere erbringen vielleicht ein gleich gutes Leistungsniveau über die gesamte Zeit, ohne dass Sie das überhaupt erkennen können.”

V: „Ich kann natürlich nicht zu jeder Zeit hinter den Mitarbeitern stehen und zuschauen, was sie machen. Das ist Glück für die eine, wenn sie im richtigen Augenblick das Richtige tut und Pech für den anderen oder eigene Schuld, wenn sie ihre Leistung nicht entsprechend darstellen.”

Med: „Ist es gerecht, Glück oder Pech zu haben?”

V: „Kommt darauf an.”

Med: „Worauf?”

V: „Ob es insgesamt gerecht verteilt ist.”

Med: „Insgesamt? Also die Leistung der Mitarbeiter über den gesamten Zeitraum, den sie in der Firma sind?”

V: „Eigentlich ja.”

Med. „Wer könnte das beurteilen?”

V: „Eigentlich niemand.”

Med: „Und trotzdem glauben Sie, gerecht zu beurteilen?”

V: „So generell vielleicht nicht, aber im Einzelfall.”

Med: „Okay, in einer konkreten Situation Glück oder Pech zu haben, wäre dann ungerecht?”

V. „Eigentlich ja.”

Med: „Wenn sich eine Mitarbeiterin in Ihrer Gegenwart leistungsstark präsentiert und in Ihrer Abwesenheit die Stilleren arbeiten lässt, wäre es dann ungerecht, wenn diese Mitarbeiterin eine bessere Beurteilung bekäme?”

V: „Naja, das kann ich ja im Einzelnen nicht wissen.”

Med: „Können Sie deren Leistung gerecht beurteilen?”

V: „Nein, aber das ist doch an den Haaren herbeigezogen.”

5. a) Aufgestellte Behauptung von MA disputieren

Das folgende Beispiel ist aus Stavemann und lässt sich in allen ähnlichen Situationen anwenden.

Med: „Lassen wir das für den Moment. (an MA:) Sie sagten vorhin, gerecht ist, was für alle gleich ist, ohne Ansehen der Person, der Herkunft und der Beziehungen. Gerecht ist, wenn Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt wird. Nehmen wir ein konkretes Beispiel aus dem Alltag. Jemand ist zu schnell gefahren und wird zu zehn Tagessätzen verurteilt. Da werden Verkehrssünder für das Gleiche in Relation zu ihrer finanziellen Situation gleich bestraft. Ist das gerecht?”

MA: „Ja klar.”

Med. „Macht es einen Unterschied, weshalb jemand zu schnell gefahren ist?” MA: „Was soll das jetzt?”

Med: „Mal angenommen, jemand fährt zu schnell, weil er das Verkehrsschild übersehen hat, während er gerade einen Lastwagen überholt. Ein anderer fährt zu schnell, obwohl er von der Geschwindigkeitsbegrenzung weiß, aber er fährt seine schwangere Frau ins Krankenhaus. Ein Dritter fährt zu schnell, weil er seinen Freunden damit imponieren will. Wäre es gerecht, wenn alle die gleiche Strafe bekämen?”

MA: „Nein, eigentlich nicht.”

Med: „Weshalb nicht?”

MA: „Der erste hätte Pech gehabt. Das haben wir gerade als ungerecht bezeichnet. Der zweite hatte allen Grund, sich zu beeilen, und der dritte ist einfach nur ein Verkehrsraudi.”

Med: „Wie würden Sie denn die drei in Ihrem Sinne gerecht bestrafen?”

MA: „Weiß ich nicht. Das geht so nicht.”

6. a) Gemeinsame Suche nach Alternativen

Med (zu MA): „Sie möchten dennoch, dass es bei der Beurteilung gerecht zugeht?”

MA: „Unbedingt!”

Med (an V): „Und für Sie ist es weiterhin wichtig, Leistungen gerecht zu beurteilen?”

V: „Natürlich. Es gibt wohl keine allgemeingültige Definition von Gerechtigkeit. Vielleicht ist ein anderer Begriff besser: Fairness.”

Med: „Damit ersetzen Sie den einen Begriff durch einen anderen, der vielleicht ebenso unscharf ist.”

V: „Mag sein. Vielleicht hilft, wenn man vor dem Beurteilungsgespräch mit den Mitarbeitern bespricht, nach welchen Kriterien die Beurteilung erfolgt und wie die Daten für die Kriterien zustande gekommen sind.”

Med (an MA): „Wäre das für Sie akzeptabel?”

MA: „Da gäbe es wenigstens die Möglichkeit, Hintergründe von Situationen zu berücksichtigen und evtl. falsche Eindrücke zurechtzurücken.”

Med (an V): „Könnten Sie sich vorstellen, ein Beurteilungsgespräch auf dieser Grundlage zu führen?”

V: „Ja schon, das muss natürlich mit der Geschäftsleitung abgesprochen sein. Ich kann keine Alleingänge unternehmen.”

7. a) Ergebnis

Beide Parteien einigen sich, das Beurteilungsgespräch zu wiederholen. V sagt zu, die Kriterien auf den Tisch zu legen sowie alle Daten, die zur Beurteilung von MA vorliegen.

Grenzen des Verfahrens

Die Anwendung des Sokratischen Dialogs ist nicht simpel. Erst nach intensivem Lesen von ausführlichen Beispielen und schrittweisem Üben einzelner Sequenzen ist es sinnvoll, den ersten vollständigen Dialog durchzuführen. Für die Anwendung in der Psychotherapie gilt die Forderung, dass die Klienten intellektuell und psychisch in der Lage sind, eigenes Denken zu erfassen, zu beschreiben und zu reflektieren, für Veränderung motiviert sind und Problemeinsicht besitzen. Die Therapeuten / Klienten-Beziehung muss stimmen und genügend Zeit vorhanden sein. Dieselben Kriterien gelten auch für Parteien in der Mediation.

Literaturempfehlung:

  • Stavemann, Harlich H., Sokratische Gesprächsführung, in Therapie und Beratung, Basel 2007.
  • Stavemann, Harlich H., KVT-Praxis, Strategien und Leitfäden für die Kognitive Verhaltenstherapie, Basel 2005.

 

Der Autor:

Dr. Wolfgang Weidner, Mediator, Psycho­logi­scher­Berater, Dozent. Er arbeitete 25 Jahre in der Industrie in internationalen Managementfunktionen, ist heute Dozent am Georg Simon Ohm Management Institut in Nürnberg, Mediator, Trainer in der Industrie für Konfliktseminare, hat eine Praxis für Psychotherapie (HPG) in Nürnberg und ist Gesellschafter der TWINN Group

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