Christian Maier Christian Maier

Der erste Schritt

Von einem der loskrabbelte um Laufen zu lernen

Erinnern Sie sich noch wie Sie als Kind laufen lernten? Vermutlich nicht, aber bei den meisten war es in etwa so:

„Krabbelnd machten Sie sich auf den Weg die Welt zu entdecken, dorthin und dahin, Widerständen aus dem Weg gehend, Lücken suchend. Sie machten die Erfahrung von hart und weich, rutschig und griffig und viele andere. Eines Tages fiel Ihnen vermutlich auf, dass Ihre liebsten Menschen irgendwie anders vorwärts kamen, weiter oben, aufrechter, schneller. Verständlich, dass auch Sie irgendwann da hoch wollten und als Ihnen ein Tisch- oder Stuhlbein in den Weg kam, nutzten Sie es, um sich daran hochzuziehen. Welch Anblick aus dieser neuen Perspektive! Etwas vorsichtig aber auch neugierig machten Sie den ersten Schritt Ihres Lebens, dem noch viele folgen sollten. Aber eh Sie sich versahen, fanden Sie sich wieder in der gewohnten und sicheren Umgebung nahe über dem Boden. Wo war noch das Tischbein und schon folgte der zweite Versuch um nach einigen weiteren Versuchen schließlich strahlend in die Arme Ihrer Mutter oder Vaters zu fallen, die sich über diese ersten Gehversuche freuten.

Und dass Sie es gelernt haben, merken Sie daran, dass Sie heute aufrecht durchs Leben gehen. Und niemand wundert sich darüber, nicht einmal Sie selbst. Dabei ist es schon ein Wunder, dass Sie Gehen gelernt haben, ohne dass es Ihnen jemand erklärt hat. Da war niemand, der Ihnen etwas über die Funktion Ihrer Muskeln, Sehnen und Knochen erklärt oder mit Ihnen Gleichgewichtsübungen gemacht hat. Kein Vater, der mit sorgenvollem Blick im Telefonbuch unter der Rubrik „Lauflehrer“ nachgeschlagen hat. Keine Mutter, die mitleidig sagte „Bleib liegen Kind, das wird nichts, wir tragen dich durchs Leben“. Dabei sahen die ersten Versuche wirklich nicht sehr vielversprechend aus.

Aber nichts dergleichen begegnete Ihnen, als Sie nach mehreren vergeblichen Versuchen glücklich davon krabbelten. Im Gegenteil, wohlwollende und glückliche Gesichter begleitete Ihr Aneinanderreihen von Misserfolgen. Vielleicht wurde noch etwas für Ihre Sicherheit getan, Kaktusse höher gestellt, im Stehen erreichbare Gegenstände gesichert, aber sonst war da nur Vertrauen und Zuversicht.

Zwei Wunder …

  • Sie machen etwas falsch und alle freuen sich
  • Sie lernen etwas, ohne zu wissen wie es geht

… und ein Rätsel:

  • Gehen geht, ohne dass ich weiß wie!

Lassen Sie zunächst einmal die beiden Wunder auf sich wirken und wundern Sie sich ein bisschen, bevor wir uns dem Rätsel „wie geht Gehen?“ widmen.

„Wie geht denn jetzt Gehen eigentlich wirklich?“ fragte ich meine Seminarteilnehmer, während ich sie aufforderte herumzugehen und es herauszufinden. Nach einer längeren Forschungsphase bekam ich folgende Antworten:

  • Gehen ist ein Prozess des ständigen Stürzens, das durch das abwechselnde Vorsetzen eines Beines abgefangen wird
  • es geht von allein
  • so wie ich es will
  • am besten locker
  • über Kreuz
  • tausende verschiedene Bewegungsabläufe
  • Schutzreflex um nicht umzufallen

Jetzt stellen Sie sich einfach einmal vor, sie könnten noch nicht gehen und kämen in Ihre erste Gehstunde gekrabbelt. Und dort hören Sie dann „Gehen ist ein Prozess des ständigen Stürzens, das durch das abwechselnde Vorsetzen eines Beines abgefangen wird, aber eigentlich geht es von alleine. Sie würden vermutlich gleich wieder zur Tür rauskrabbeln und damit wäre das Thema dann erledigt und der erste Schritt möglicherweise in weite Ferne gerückt.

Ähnlich wie das Gehen, lernen wir als Kinder auch andere Dinge, zum Beispiel unsere Muttersprache, Malen, Singen usw. Auch hier sorgen geliebte Vorbilder und ein wohlwollendes Umfeld dafür, dass die natürliche Entdeckerfreude geweckt wird. Es wird ein Spielraum geboten, indem das Wesentliche stattfinden kann: Von Lernen im belehrend, anstrengenden Sinne ist hier noch keine Spur, es passiert einfach und wird als etwas Selbstverständliches angesehen. Der erwartungsfrohe Blick einer Mutter, wenn es ihrem Kind Worte vorsagt, birgt keinerlei Zweifel, dass es diese auch irgendwann versteht und spricht. Da ist kein versteckter Gedanke, ob das Kind wohl sprachbegabt wäre oder man nicht lieber eine andere – eine leichtere – Sprache hätte wählen sollen (zum Beispiel Chinesisch, weil diese ja besonders leicht sein muss, wenn sie von so vielen gesprochen wird).

Betrachten wir daher nochmals das Wunder, das jeder erlebt hat. Was war dazu nötig:

  • Vertrauen: Keiner zweifelte daran, dass Sie das Potenzial zum Gehen haben, obwohl es am Anfang sicher nicht danach aussah. 
  • Geschehen lassen: Keiner gab Ihnen Tipps oder kritisierte, wenn Sie es ausprobierten und etwas falsch machten 
  • liebevolle Ermunterung: Keiner zweifelte an Ihrem Erfolg. Fehler werden nicht zum Problem. 
  • Zeit um Auszuprobieren und zu Erforschen. 
  • Hohes Maß an Verbundenheit zwischen „Lehrer“ und „Schüler“.

Leider ist es so, dass dieses besonders erfolgreiche Lernerlebnis beim Laufenlernen eben nicht zur Gewohnheit wird. Stattdessen heißt es irgendwann: „Liebes Kind, bis jetzt war Lernen leicht und ein Vergnügen, jetzt beginnt der Ernst des Lebens!“ Und wer hat das nicht in seinen verschiedenen Facetten kennen gelernt.

Aus Interesse, Erforschen, Ausprobieren, Neugierde, Motivation, Spaß, Energie wird Lernstoff, Lehrer, Fehler, Stundenplan, Übung, Prüfung, Anspannung, still sitzen, Erschöpfung.

Aus ich will, wird du sollst.

Aus  l e i c h t  wird s c h w e r

Warum machen wir uns (und anderen) das Lernen nach dieser einmaligen Erfahrung beim Gehen lernen oft so schwer? Warum vertrauen wir später so wenig in natürliche Wachstumsprozesse? Warum wird das, was von innen kommt und sich entfalten möchte, so dirigiert und behindert, dass viele Menschen als Erwachsene zu weit einfacheren Dingen wie "Gehen" sagen, "dass kann ich nicht!". Warum folgt diesem freien und erforschenden "ich will" ein in enge Bahnen gezwängtes "du sollst"?

Weil – und die Antwort wird Sie verblüffen – wir es selbst so erlebt haben und zwar so oft, dass es zu einer stabilen Gewohnheit wurde, selbst wenn wir als Schüler darunter gelitten haben. Denn schließlich ist etwas aus den meisten von uns geworden ist, also muss es auch gut gewesen sein, selbst wenn es sich nicht gut angefühlt hat!

Das ist tragisch, nicht nur für die Betroffenen, denn diese lernen dabei zu zweifeln und unsicher zu werden. Es ist auch tragisch für die Lehrenden, die ja eigentlich genau das Gegenteil erreichen wollen. Welcher Musiklehrer will seinen Schülern beibringen, dass sie unmusikalisch sind? Welcher Französischlehrer hat zum Ziel, dass ein Teil seiner Schüler die von ihm geschätzte Sprache blöd finden? Welcher Seminarleiter möchte in müde Augen schauen? Welche Eltern ihr Kind beim Fahrradfahren oder schwimmen lernen leiden sehen? Welche Führungskraft will, dass seine Mitarbeiter nur ein Bruchteil ihrer möglichen Leistung bringen?

Viele Fragen drängen sich auf, wenn man das ursprüngliche Gehen lernen, das alle auf mehr oder weniger die gleiche Art "gelernt" bzw. entdeckt haben, nicht mehr als etwas Selbstverständliches ansieht, sondern als das Wunder, das es zu erhalten oder wieder zu entdecken gilt. Nicht das äußere richtige kopierbare Rezept, sondern das eigene innere Spiel, das was uns ausmacht, bewegt, Richtung gibt, ist maßgeblich. Und wenn man lehrend unterwegs ist, gilt es, sich zu erlauben, einen Rahmen zu schaffen, in dem Lernen geschieht und nicht verordnet wird. Damit bietet man Spielraum, in dem Wesentliches möglich wird, was sich wiederum neuen Spielraum schafft.

Daher gilt: Lernen ist nicht so, wie sie es gelernt haben oder anders formuliert: Lernen ist so wie Sie Gehen gelernt haben.

„inner game ist selber drauf kommen, wie es geht!
Ein Seminarteilnehmer

 

Auszug aus dem Buch Spielraum für Wesentliches von Christian Maier:

 

Buch Spielraum für Wesentliches, Christian Maier

SPIELRAUM   FÜR WESENTLICHES 
Christian Maier 
19,50 EURO,  38,00 CHF 
192 Seiten
inkl. 3 Jongliertücher
1. Auflage   2007 gebunden
allesimfluss-Verlag
ISBN   978-3-9809167-2-1 

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In der nächsten Woche geht es weiter mit der inner game Reihe.
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