otto_belz.jpg Otto Belz

Marketingleute sind ratlos. Natürlich würden das die wenigsten von ihnen zugeben, Unsicherheit und Gelassenheit schließen sich meistens aus. Immer deutlicher aber wird spürbar: Die alten Rezepte greifen nicht mehr, die Kunden verhalten sich überhaupt nicht so, wie es vorausgesagt wurde und sogar bei steigenden Umsätzen fragt sich mancher, was schließlich die Aufwärtsbewegung verursacht hat.

Am Selbstbewusstsein von Marketingleuten nagt die immer deutlicher werdende Bevorzugung von Controllern und Technikern, wenn es um die Besetzung oberster Führungsgremien geht. Das Marketing wird zurückgestuft, es wird zu einer Serviceabteilung degradiert, im besten Fall steht es auf gleicher Ebene wie der Verkauf und Human Ressource - und hat bei wichtigen Entscheidungen noch weniger zu sagen als die beiden genannten. Ratlosigkeit und Verunsicherung können gut sein, oft sind sie der Nährboden für Neues. Unsicherheit schafft das Klima, durch das neue Horizonte vorstellbar werden. Sie gibt uns die Kraft, loszulassen und den Mut, neue erste Schritte zu tun.

Die uneingeschränkte Forderung nach Zahlen und Messbarkeit

Was sich nicht in Zahlen ausdrücken lässt, existiert nicht. In Sitzungen werden 80 Prozent der Zeit mit Analysen von Zahlen vertan. Maßnahmen, deren voraussichtliches Ergebnis nicht genau gemessen werden kann, haben keine Chance, sich durchzusetzen und nur wer messbare Ergebnisse vorweisen kann, wird anerkannt. Mit teuren Marktforschungen wird bewiesen, was jeder schon lange weiß: Das Barometer der Kundenzufriedenheit ist wichtiger als alles, was wohlmeinende Kunden sagen und Verkäufer werden fast ausschließlich nach Umsatz und Deckungsbeitrag beurteilt, auch wenn diese Größen in vielen Fällen kaum etwas mit der langfristigen Wirksamkeit des Verkäufers für das Produkt zu tun haben. Kunden verkommen zu statistischen Größen, Händler zu Absatzkanälen und die ganze Vielfalt der Persönlichkeiten, welche das Produkt benutzen, einsetzen und vielleicht sogar lieben, wird auf den Konsumenten "reduziert".

Nicht von ungefähr sind alle Marketingleute immer weniger in der Lage, differenzierte Aussagen über Kundenentwicklungen zu machen oder auch nur die Sorgen und die Nöte ihrer Kunden zu beschreiben: Im Unternehmen sind sie zuständig für den Markt, neu auftauchende Fragen aber können nur durch Tests und Marktforschungen beantwortet werden. Zahlen sind wichtig und mit Sicherheit ist es nützlich, die quantitativen Auswirkungen des eigenen Tuns abzuschätzen. Wenn Zahlen aber zum Selbstzweck werden und den Blick verbauen für das, was Menschen bewegt, wird die Auseinandersetzung mit ihnen zur nutzlosen Spielerei.

Der fatale Hang zur Verwissenschaftlichung

Welches Problem wirklich zu lösen ist und was der gesunde Menschenverstand dazu meint, scheint nicht mehr notwendig zu sein. Viel wichtiger ist die Frage, nach welchem Modell vorgegangen werden soll. Gehen wir nach Weinhold, Meffert oder Kühn vor, nehmen wir vielleicht Kottler oder ist eher Porter maßgebend? Auf welche Untersuchungen sollen die einzelnen Maßnahmen abgestützt werden, welches Portfolio ist aussagefähig für die Darstellung der Ausgangslage und welche Normstrategien führen zum Erfolg?

Es liegt auf der Hand: Wer unsicher ist, sucht Sicherheit bei fremden Autoritäten. Was sie gesagt haben, kann nicht falsch sein und durch eine Checkliste und eine saubere Struktur wird die komplizierte Welt, einfach und überschaubar. Nur, ob dabei die Strategie entwickelt werden kann, die ein Unternehmen einzigartig macht, ob seine individuellen Stärken wirklich zum Tragen kommen und der speziellen Situation seiner Kunden Rechnung getragen wird, kann mindestens bezweifelt werden.

An der Sprache sollt Ihr sie erkennen

Die Art und Weise, wie wir uns ausdrücken, verrät viel mehr über uns als die Bedeutung einzelner Worte es vermuten ließe. Erst wenn ein Tatbestand klar erfasst ist und verstanden wird, können wir ihn auch in einfachen Worten ausdrücken, ohne dabei Wesentliches wegzulassen. Umgekehrt spiegelt die gestelzte, möglichst mit englischen Ausdrücken durchmischte Sprache die Verwirrung und Unsicherheit desjenigen, der versucht, seine Gedanken darzulegen. Wohl dem, der seiner zehnjährigen Tochter erklären kann, was Marketing ist, warum es eine Marktsegmentierung braucht, was eine Marke so geheimnisvoll macht und warum sich die Bearbeitung von Schlüsselkunden von derjenigen der anderen Kunden unterscheidet. Vor allem in Großunternehmen haben sich Marketingleute inzwischen einen Wortschatz angeeignet, der stark an babylonische Zeiten erinnert. Mitarbeitern anderer Disziplinen bleibt vor Staunen der Mund offen stehen, verstehen aber tun sie kein Wort. Und damit demonstrieren ausgerechnet jene, die im Unternehmen für den Dialog mit dem Kunden zuständig sind, wie sehr sie die Fähigkeit zum Dialog verloren haben.

Wenn die Form wichtiger wird als der Inhalt

In der dichter werdenden Informationsflut wird es immer schwieriger, Aufmerksamkeit zu gewinnen. Den Kampf um Aufmerksamkeit, geführt mit den wunderbaren Möglichkeiten der neuen Kommunikationstechnologien, lässt eines vergessen: Am Anfang steht die Botschaft, die Grundlage jeder guten Kommunikation sind Inhalte, die zu verankern sind. Was nützt eine wunderbare Powerpoint­ Präsentation, wenn der Redner nichts zu sagen hat. Was bleibt vom teuersten Kundenevent mit professionellen Moderatoren, berühmten Gastrednern, dem Gala­Abend und der tollen Multimedia-­Lightshow, wenn die Veranstaltung nichts mit dem Unternehmen zu tun hat und die kurze Begrüßung des Unternehmens nicht annähernd so spannend war wie das übrige Programm? Im besten Fall eine schöne Erinnerung. Genau so wie Angebote, farbig bedruckt mit dem Namen des Kunden auf dem Titelblatt nichts nützen, wenn alle der vorgeschlagenen Alternativen mit dem Problem des Kunden nichts gemeinsam haben.

Im Kampf um die Aufmerksamkeit ist die Form wichtiger geworden als der Inhalt. Marketingleute investieren mehr Zeit und Energie in den Verkauf von Dienstleistungen, als sie für ihre Entwicklung und ihre Erbringung einsetzen. Und bei den immer teurer werdenden Prospekten genügt es oft, den Namen abzudecken und sie würden auch für die Konkurrenz stimmen. Die Auseinandersetzung mit den Themen, über die wir den Kundendialog führen wollen, ist eine mühsame Sache: Es braucht Energie, Kraft und Zeit dazu. Aber sie ist die Voraussetzung, um auch kommunikativ einzigartig und erfolgreich zu sein.

Gut genug und der mangelnde Stolz auf die eigene Leistung

"Gut genug" und "man kann auch in Schönheit sterben" sind Sätze, die im Marketing immer häufiger zu hören sind. Eine fatale Haltung. Natürlich sollten wir dem Kunden nicht mehr geben, als er tatsächlich braucht. Keine Dienstleistung ist so teuer wie jene, die der Kunde nur nimmt, weil sie ihm nichts kostet. Das "gut genug" aber führt unweigerlich zur Mittelmäßigkeit. Dorthin, wo der Wettbewerb nur mit hervorragenden Leistungen zu gewinnen ist. Dies gilt vor allem in den Bereichen, wo Service und Dienstleistungen eine entscheidende Rolle spielen. Bei Dienstleistungen zählt die Art und Weise, wie sie erbracht werden. Es ist der Wille, jedes Mal aufs Neue die beste Leistung zu erbringen und die Aufmerksamkeit uneingeschränkt auf den einzelnen Kunden zu fokussieren, was eine Dienstleistung außergewöhnlich macht. Nur so werden Dienstleistungen wieder zu Dienstleistungen. Das Überraschungsmoment - ist es auch noch so klein - das sie beim Kunden auslösen, ist der Grund, warum er gerne mit ihrem Unternehmen zusammenarbeitet.

Fast noch schlimmer als für den Kunden ist die Wirkung des "gut genug" für die eigenen Mitarbeiter. Wer genau gemessene Leistungen erbringt, wird selbst mittelmäßig und hat keinen Grund mehr, sich anzustrengen, kreativ zu sein, besser zu werden. Damit verschwindet auch der Stolz auf das eigene Produkt, das Gefühl, dem Kunden etwas außergewöhnlich Gutes zu bringen. Und wer auf seine eigene Leistung nicht stolz ist, kann diesen Stolz auch nicht übertragen und wird nur erbittert feststellen, wie der Kunde scheinbar nicht mehr Qualitäten, sondern nur noch Preise vergleicht.

Die Unfähigkeit, Qualität zu erkennen

Es ist erschütternd, wie lieblos und billig Kampagnen oder auch einzelne Prospekte gemacht sind. Ein nichtssagender, marktschreierischer Text und Bilder, die bestenfalls informieren, aber keinesfalls Lust machen, Maschinen, die sechsstellige Beträge kosten, anspruchsvollste Dienstleistungen, hochwertige Lebensmittel, Schmuck und teure Kleider werden so vermarktet. Der Jahresbericht, eine der wenigen Möglichkeiten, das eigene Geschäft darzustellen und zusätzliche Interpretationen zu liefern, verkommt zur Produktbroschüre - ausgeschmückt mit ein paar Unternehmenszahlen und den Steckbrief-Fotos der Geschäftsleitung.

Natürlich steckt hinter alledem der Kostendruck, den auch Marketingleute zu spüren bekommen. Wenige sind sich bewusst, was ein lieblos gestalteter und schnell gemachter Prospekt dem Kunden zwischen den Zeilen erzählt. Auf viele Maßnahmen könnte verzichtet, andere stattdessen verwirklicht werden, welche der Qualität der eigenen Unternehmensprodukte und ­-leistungen entsprechen würden. Der Kostendruck ist nur ein Grund für die qualitativ minderwertige Realisierung von Kampagnen. Seine Wirkung verstärkt sich durch das immer tiefer sinkende Qualitätsempfinden der Beteiligten. Um Qualität erkennen zu können, muss man von ihr umgeben sein. Sie soll Freude stiften und die Bereitschaft fördern, für sich selbst das Beste zu wählen ­abgesehen von dem Preis. Wer selbst nicht gerne isst, wird selten ein guter Koch. Wer sich selbst nichts gönnt, wird auch seinen Kunden allerhand zumuten. Wer seine Produkte nicht liebt, wird sie entsprechend nachlässig weiterentwickeln und begleiten.

Hektik und manische Verhaltensweisen

Keine Zeit zu haben, gehört zu den wichtigsten Eigenschaften der Marketingszene, ­es ist quasi ein Statussymbol. Jeder muss überall dabei sein: an jeder Sitzung, an jedem Gespräch, an jedem Event. Es fehlt die Zeit, eine Aufgabe sorgfältig durchzudenken, Lösungen auszudiskutieren, sich mit einem zentralen Thema bewusst auseinanderzusetzen. Wer nur noch Dringendes tut, hat bald keine Zeit mehr für Wichtiges. In diesem Überlebenskampf eignet sich der Einzelne eine ganze Reihe von Verhaltensweisen an, die stereotyp angewandt werden ­unabhängig von der Situation: Jede Sitzung läuft gleich ab (und jeder sitzt immer am gleichen Platz), jedes Problem wird immer gleich strukturiert, jeder Bericht ist gleich aufgebaut, jeder Kundenbrief und jedes Angebot haben fast den identischen Wortlaut. Nichts Neues kann mehr entstehen, jeder kreative Gedanke wird im Keim erstickt.

Aktionismus

In den Köpfen vieler Marketingleute scheint ein Grundsatz fest verankert zu sein: Je tiefer der Preis, desto höher der Umsatz. Wenn der Umsatz stagniert, braucht es eine kurzfristige Preisreduktion, oder man schenkt dem Kunden etwas, damit er das Produkt quasi zum alten Preis kauft. Inzwischen verteilt jedes zweite Geschäft Geschenke an ihre Kunden: Eier an Ostern, Rosen zum Muttertag, einen Regenschirm bei schlechtem Wetter oder ein Aromabad für das bessere Wohlbefinden, Filzstifte für eine buntere oder den außergewöhnlich saugkräftigen Waschlappen für eine sauberere Welt. Die Ideen sind vielfältig. Der Geldbeutel des durchschnittlichen Kunden ist voller Gutscheine und neben der Kreditkarte und dem Fahrausweis stapeln sich die Kundenkarten unterschiedlichster Kaufhäuser. Kurzfristig steigern solche Aktionen den Umsatz, was alle dringend nötig haben, bis sich der Kunde daran gewöhnt hat und nur noch bei Rabatten und Sonderaktionen einkauft. Das Preisniveau sinkt und die ohnehin knappe Marge noch mehr. Es stellt sich wiederum die Frage: Wo bleibt der Stolz auf die eigene Leistung, wenn wir dem Kunden etwas geben müssen, damit er diese Leistung kauft? Warum versuchen wir Kunden mit etwas zu ködern, was sie weder wollen noch brauchen.

Erfolgsfaktoren eines zukunftsorientierten Marketing

  • Marketingleute werden wieder mehr für den Kunden kämpfen müssen. Vielleicht werden Sie weniger Zufriedenheitsmessungen durchführen und dafür wieder mehr zuhören. 
  • Marketingmaßnahmen werden dann erfolgreich sein, wenn sie nachhaltig wirken. Die Maßnahmen der Gegenwart sollen die Maßnahmen der Vergangenheit nutzen und ein Fundament sein für die Maßnahmen der Zukunft. 
  • Zu lange haben Marketingleute sich an bekannten Lösungen ihrer Branche orientiert. Marketingmaßnahmen der Zukunft müssen anders sein, um Einzigartigkeit zu demonstrieren. 
  • Erfolgreiche Marken drücken Haltungen aus. Ihre Erscheinung, ihre Produkte und ihr Auftritt transportieren Wertvorstellungen, die ihre Fans mit ihnen teilen möchten. 
  • Ohne Inhalt nützt die schönste Verpackung nichts. Wer einen Dialog mit seinen Kunden führen will, wählt sorgfältig die Themen aus, bevor er diese wirkungsvoll in Szene setzt.

Das Marketing, wie es in den letzten Jahren in vielen Unternehmen betrieben wurde, stirbt. Die Welt der Checklisten, sicheren Rezepte und ausgefeilten Methoden bricht zusammen. Glücklicherweise, denn damit rutscht das Marketing aus der Hand der Experten in die Verantwortung derjenigen, die zu verstehen suchen, neugierig sind, mehr fragen als wissen und doch verzaubert sind von ihren Visionen. Entwickeln Sie neue Horizonte, werfen Sie über Bord, was Sie schon lange nicht mehr weiterbringt und tun Sie die ersten Schritte in die richtige Richtung. Denn Marketing ist auch heute noch faszinierend wie eh und je: Noch immer geht es um Menschen, die sich letztlich weder messen, noch kaufen, noch in ihrem Verhalten vorausbestimmen lassen.

* Otto Belz

führt die Geschäfte der internationalen Beratungsfirma perSens AG in St. Gallen. Er berät seit mehr als zwei Jahrzehnten Unternehmen in Fragen der Unternehmens­- und Marketingstrategie. Der Schweizer publiziert sein Management­Expertenwissen in der Fachzeitschrift "index", deren Chefredakteur und Herausgeber er ist. Für das SchmidtColleg führt er im Rahmen des Lehrgangs UnternehmerKompetenz Seminare zu den Themen MarketingKompetenz sowie VertriebsKompetenz durch.

Weitere Infos erhalten Sie unter
www.schmidtcolleg.de
oder per Email unter info@schmidtcolleg.de

Zum Anfang
Our website is protected by DMC Firewall!