Problemlösungsprozesse

Verweilen im Hier und Jetzt

Falko E. P. Wilms, Peter Jancsary

Jede nachhaltige Beratung verlangt immer wieder das Aushalten des gemeinsamen Miteinanders im Hier und Jetzt. Zentral ist die Frage an den Beratenen: „Kannst Du Dir darüber klar werden, warum diese Thematik für Dich so bedeutsam ist?“

Die Beratung

Beratung ist ein schillernder Begriff mit einer umfänglichen Ideengeschichte.[i] Zumeist wird darunter ein Bündel aus verschiedenen am Kontext, am Anliegen und am Klienten ausgerichteter Prozesse, Architekturen sowie dazugehörender Interventionsmethoden und -techniken verstanden, das sich am Regelwerk zwischen dem Einzelnen und seinem sozio-ökonomi­schen Umfeld orientiert.

Der Traditionelle Ansatz

Das Grundmuster der meisten Beratungsprozesse, die aus einem Beratenden und einem Beratenen
bestehen, durchläuft folgende Phasen (siehe Abb. 1):

  • Im Zuge des direkten Gespräches kommt es zur Entfremdung vom Hier und Jetzt der Beratungssituation: Der Beratende versucht (a), über eine Abstraktion, das Tun/Unterlassen und das Reden da­ rüber intellektuell von einer Meta-Ebene quasi von außen zu betrachten.
  • Mit seiner konzeptgestützte Betrachtung einer intellektuellen Meta-Ebene, die letztlich auf den eigenen Denkgewohnheiten beruht, erzeugt der Beratende ein nicht direkt beobachtbares, rein mentales Konstrukt und fixiert sein Verständnis der Situation.
  • Das Verständnis des Beratenden beruht somit kaum auf dem Erleben des Hier und Jetzt der Situation, sondern auf seiner gewohnheitsmäßigen Zuordnung von theoretischen, abstrahierenden Konstrukten (Modelle, Theorien, Hypothesen, Methoden und Prozessen) zur aktuellenSituation (b) mit dem Ziel einer „objektiven“Definition des Beratungsaktes.
  • Daraufhin wird dann ein zur konstruktbasierten Definition passendes, handlungsorientiertes Rezept (c) erstellt, mit dessen Umsetzung der Beratene eine Hilfestellung erfahren soll.
  • Abschließend erfolgt ein Praxistransfer des konstruktbasierten Rezeptes in das Hier und Jetzt der Situation. Das Ziel ist die Formulierung einer möglichst konkreten (marktfähige!) to do list (d), deren korrekte Umsetzung als Hilfe­stellung deklariert wird.

Das grundlegende Beratungsverständnis dieses traditionellen Ansatzes ist seitens des Beratenden implizit mit der Aufforderung think and get rich verbunden.

Eine Alternative

Ein alternativer Beratungsansatz basiert auf einem Verstehens- bzw. Bedeutungshorizont[ii], der sich aus im Tun/Unterlassen im Hier und Jetzt auf sich selbst bezieht. Dabei wird dem Tuenden oder Unterlassenen Akteur die eigenen Existenz erfahrbar: Im Beratungsgespräch werden Beratender und Beratener im Hier und Jetzt der Situation durch ihre Betroffenheit oder durch ihr Interesse an der gemeinsam besprochenen Thematik miteinander vereint. Es wird ein situationsimmanentes Verständnis des besprochenen Phänomens möglich, indem sich das Denken auf sich selbst bezieht und die Leere zwischen den einzelnen Gedanken eines Gedankenganges ihre Wirkungen entfaltet:

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Abb. 1: Das traditionelle Beratungsverständnis

  • Durch ein auf-sich-wirken-Lassen des Gehörten aus innerem Schweigen heraus werden die vom Gesagten und vom Lärm im eigenen Inneren ausgelösten Reaktionen wahrnehmbar[iii], wobei oftmals Gewohnheiten im Benutzen von vorgefertigten Gedanken(gängen) erkannt werden.[iv]
  • Durch ein respektvolles, achtsames Anerkennen und Bewahren eigener und fremder Grenzen drängt sich kein Prozessbeteiligter dem anderen auf und zieht sich keiner vom Anderen zurück.[v]
  • Im Rahmen der bewussten Teilnahme am Beratungsprozess wird das Kommen und Gehen von eigenen Gedankengängen, Emotionen und Meinungen beobachtet, ohne den fließenden Charakter des Prozesses zu verleugnen, indem an bestimmten Gedanken, Emotionen oder Meinungen festgehalten oder für sie plädiert wird.[vi]
  • Im Sprechen formulieren die Sprechenden mit ihrer eigenen Wahrhaftigkeit, losgelöst von den Erwartungen anderer, das, was sie im Hier und Jetzt denken und fühlen[vii] bzw. ihnen im Hier und Jetzt als „wesentlich“ erscheint.[viii]
  • Mit dem äußeren und inneren Schweigen der Beteiligten wird es möglich, die eigene innere Stimme zu hören[ix] mit der die Frage beantwortet wird: „Kannst Du Dir darüber klar werden, warum diese Frage/Thematik für Dich so bedeutsam ist?“

Die Vermarktung

Ein Berater platziert sein Angebot so am Markt, dass es die ökonomische Grundlage seines Beratungsgeschäftes sichert (Ziel: größere Sicherheit, ggf. Expansion). Wie kann eine Vermarktung der hier skizzierten beiden Ansätze erfolgen?

Im traditionellen Beratungsansatz wird aus dem aktuellen Hier und Jetzt herausgetreten und aufgrund theoretisch-abstrahierender Konstrukte eine Expertise inszenierbar, die zusammen mit den Rezepten vermarktbar ist. Allerdings wird nicht vom Anliegen oder vom Sprechen des Beratenen ausgegangen, sondern vielmehr von abstrakten Konzepten des Beratenden. Unter einem bestimmten Zielbezug werden also symptombehaftete Möglichkeiten der Verhaltensänderung des Beratenen vermarktet. Da das eigentliche Problem nicht oder kaum angetastet worden ist, kommt es letztlich zu einer Verfestigung des Problems. Bald bieten die erlernten Verhaltensmodifikationen keine Hilfe mehr und es kommt zu einer erneuten, abrechenbaren Beratungssituation.

Der hier skizzierte alternative Beratungsansatz hingegen ist für den Beratenen eher langwierig, mühsam bis schmerzlich und stellt ihn als Ganzes infrage. Das Nichtwissen (die Weglosigkeit) des Beratenen wird dabei als konstitutives Element des Verstehens und der Selbsterkenntnis angesehen - und was am schwierigsten zu vermitteln ist: Das Resultat sieht zumeist anders aus als der Beratene erwartet. Es läuft darauf hinaus, dass der Beratene etwas von seinen Gewohnheiten im Tun und/oder Unterlassen verändert, um eine seinsorientierte Offenheit zu ermöglichen und eine größere Selbsterkenntnis zu erlangen. Ein solches Beratungsangebot kann nur vermarktet werden, wenn die Nachhaltigkeit der erarbeiteten Änderungen ins Zentrum der Betrachtungen gestellt wird. Diese Nachhaltigkeit zu erlangen, verlangt nach einer professionellen Begleitung im Aushalten und Bewältigen des Hier und Jetzt und genau diese Begleitung kann auch vermarktet werden, sogar mit einem Stundensatz!

Das Fazit

Für jede Form einer nachhaltigen Beratungsleistung benötigt der Beratende die Fähigkeit des Verweilens im Hier und Jetzt statt einer intellektuellen Flucht in abstrahierende Konstrukte.

Es ist ein für den Beratungserfolg entscheidender Unterschied, ob ich die entsetzlichen Folgen eines Deichbruchs durch eine Sturmflut intellektuell durchdenke oder ob ich sie jetzt gerade am Deich stehend erlebe…

Statt „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Ver­standes zu bedienen“ sollte es für jeden Beratenden besser heißen: „Habe den Mut, Dich Deinen eigenen Gewohnheiten im Tun/Unterlassen, insbesondere hinsichtlich Deiner geistigen Abstraktion vom Hier und Jetzt zu stellen mit dem Wunsche, sie zu überwinden!“

Die Autoren

Dr. Peter M. Jancsary und Dr. Falko E. P. Wilms arbeiten als Trainer, Berater und Hochschullehrer zusammen in der Studiengruppe für Organisations-Entwicklung an der FH Vorarlberg in Dornbirn, Österreich.

peter.jancsary@fhv.at | www.staff.fhv.at/jan
falko.wilms@fhv.at | www.staff.fhv.at/wf

Literaturverweise:

[i]    Vgl.: Thomas Prechtl (Hrsg.): Das Buch von Rat und Tat.
Ein Lesebuch aus drei Jahrtausenden, München 1999

[ii]   Vgl.: Heidegger, M.: Sein und Zeit, $4 und §63, 17. Aufl.
Tübingen 1993 (zuerst 1926); Gadamer, H.-G.: Wahrheit
und Methode, 6. Aufl. Tübingen 1990 (zuerst 1960)

[iii] Vgl.: Isaacs, W.: Dialog als Kunst, gemeinsam zu denken, Köln 2002, S. 85

[iv] Vgl.: Hartkemeyer, M./Hartkemeyer, J. F./ Dhority, F. L.:
Miteinander Denken, Klett Cotta: Stuttgart 19982, S. 81

[v]   Vgl.: Isaacs, W.: Dialog als Kunst, gemeinsam zu denken, Köln 2002, S. 105 ff.

[vi] Vgl.: Isaacs, W.: a. a. O, S. 123

[vii] Vgl.: Isaacs, W.: a. a. O, S. 141

[viii] Vgl.: Hartkemeyer, J. F./Hartkemeyer, M.: Die Kunst des
Dialogs, Klett Cotta: Stuttgart 2005, S. 41

[ix]   Vgl.: Isaacs, W.: a. a. O, S. 145

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