Opfer oder Täter - wer sind wir?

Wenn ich mir die öffentliche Diskussion in Deutschland anschaue, mir die „veröffentlichte“ Meinung der Medien vergegenwärtige, beschleicht mich in den letzten Jahren zunehmend ein ungutes Gefühl. Wir sprechen von der Alters- und Kinderarmut, den Langzeitarbeitslosen, den Integrationsproblemen, der Anonymität europäischer Entscheidungen, der Ungerechtigkeit von Hartz IV, den Problemen des Gesundheitsfonds, den steigenden Energie- und Rohstoffpreisen, der mangelnden Qualifikation von Schulabgängern, der steigenden Anzahl Hochqualifizierter, die das Land verlassen, der zunehmenden Zahl fehlender Facharbeiter, der sozialen Kälte einer Ellbogen-Gesellschaft und… und… und… Diese Liste ließe sich noch weiter führen.

Schuld daran, so ist meine Wahrnehmung, sind die Politiker, die Manager, die Gewerkschaftler, die Ölscheichs, die Lehrer, die Politik, die Globalisierung, die Marktwirtschaft, der Egoismus, das Machtstreben, die Rücksichtslosigkeit, die zunehmende Gewaltbereitschaft, die Mitbestimmung…

Wir beklagen den Neoliberalismus (Wer weiß eigentlich, was das ist?), befürchten amerikanische Verhältnisse (Wer hat das eigentlich schon einmal gelebt?), sehnen uns nach den überschaubaren Verhältnissen der angeblich goldenen 60er und 70er Jahre und ziehen die Gleichheit der Freiheit vor, wie jüngst eine Umfrage ergeben hat und vergessen dabei, dass ein deutscher Staat gerade u. a. daran zu Grunde gegangen ist.

All diese Überlegungen haben u. a. eines gemeinsam, nämlich das Gefühl, zu kurz zu kommen, benachteiligt zu werden, abhängig zu sein, betrogen und ausgenutzt zu werden, letztendlich Opfer der Umstände, der Entwicklung, der Mächtigen dieser Welt zu sein.

Bei dieser ganzen Diskussion vergessen wir allerdings eines: Wir haben diesen Staat, diese Gesellschaft, die heutige Situation so gewollt oder zumindest schweigend und duldend zugelassen. Wir sind nicht die Opfer sondern die Täter. Wir sind (mit)verantwortlich für das Deutschland 2008. Mir drängen sich da einige Fragen auf:

  • Wie intensiv haben die ca. 70.000 Jugendlichen, die jedes Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen, gelernt?
  • Wie aktiv haben sich die Langzeitarbeitslosen um ihre „Weiter-“Qualifikation bemüht und nach einer entsprechenden Stelle gesucht? 
  • Was passiert mit ca. 270 Milliarden Euro, die jährlich für die Familien ausgegeben werden, wenn wir von Kinderarmut sprechen? 
  • Welche Erwartungen haben diejenigen, die heute über Altersarmut klagen - unter Berücksichtigung ihrer eigenen Leistungen? 
  • In wie weit ist die allein erziehende Mutter / der allein erziehende Vater denn mitverantwortlich dafür, dass die Partnerschaft in die Brüche gegangen ist? 
  • Warum müssen Kinder mit Nachhilfestunden, Druck und entsprechender elterlicher Erwartungshaltung durch Abitur und Studium „geprügelt“ werden, wenn wir mit manchen Akademikern die Straße pflastern können, andererseits aber die fehlenden Facharbeiter beklagen? 
  • Warum bleiben viele Kinder sich selbst überlassen, hängen stundenlang vor Computer und Fernseher, ohne soziale Ansprache, sondern mit der Flucht in die Scheinwelt des „second life“? 
  • Warum leben ausländische Mitbürger zum Teil in der zweiten und dritten Generation in Deutschland und beherrschen unsere Sprache nicht? 
  • Was haben wir getan, um Mitbürger mit Migrationshintergrund aktiv in unsere Gesellschaft zu integrieren? 
  • Was tut jeder von uns, um ein positives soziales Klima zu gestalten und Rücksicht zu nehmen auf die anderen Partner / Kinder / Mitschüler / Verkehrsteilnehmer usw.? 
  • Warum müssen jugendliche Straftäter erst 30- bis 40mal straffällig werden, bevor sie abgeschoben werden können – wenn überhaupt? 
  • Was tun wir konkret, um Flatrate-Trinken und KomaSaufen zu unterbinden?

Auch diese Liste ließe sich ohne Schwierigkeiten weiter führen. Natürlich habe auch ich auf all diese Fragen keine letztendlich richtige Antwort. Ich kann auch nicht die Welt / die Gesellschaft ändern, aber ich kann meinen Beitrag dazu leisten, dass ich die Menschen, mit denen ich zusammenkomme - in diesem Falle Sie durch diese Zeilen - anrege, über sich selbst, Ihr Leben und die damit verbundene Verantwortung nachzudenken. Und dabei sollten wir bei all den Problemen, die unsere Gesellschaft belasten, die Dinge nicht vergessen, die uns auszeichnen und stark machen:

-     Ein Sozialsystem, das uns Sicherheit und freie Entfaltung unserer Persönlichkeit ermöglicht.
-     Eine soziale Marktwirtschaft, die uns ein Wohlstandsniveau ermöglicht, das seinesgleichen auf der Welt sucht.
-     Ein politisches System, das uns seit 1945 ein Leben in Frieden, Sicherheit und Freiheit ermöglicht.

Hören wir auf, auf hohem Niveau zu jammern! Vergessen wir nicht ein Gefühl für Perspektive und Proportion. Wir sind mit die größten Globalisierungsgewinner – Export-, Konsum- und Reiseweltmeister. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 10.04.2008 habe ich in dem Artikel „Im Land der Opfer“ auf Seite 3 u.a. folgenden Satz gefunden:

„Reicher, gleicher und freier als die Deutschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, haben kaum je Menschen gelebt und lebt auch heute kein Volk auf dieser Erde. Wir, die Mehrheit der gegenwärtigen Deutschen, gehören zur herrschenden Klasse der Weltgeschichte.“

Dies sollte uns ein Gefühl des Stolzes und der Dankbarkeit geben, uns Mut machen und das Bewusstsein dafür schärfen, dass wir zukünftigen Herausforderungen gerecht werden und in Erkenntnis unserer Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen verantwortlich das Leben in die eigene Hand nehmen können.

Erich Lotz

Erich Lotz

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