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Insiderwissen, das jede(r) Trainer(in) und Coach kennen sollte

Sechs Irrtümer über Resilienz

Dr. Tatjana Reichhart

Gerade in Zeiten, die besonders stark von Wandel, Unsicherheiten und Turbulenzen geprägt sind, wird das Konzept der Resilienz sowohl im Unternehmenskontext als auch im Einzelcoaching umso wichtiger und auch populärer. Die „seelische Widerstandsfähigkeit“, das „psychische Immunsystem“ oder die „Hornhaut der Seele“, wie man Resilienz auch bezeichnen kann, ist seit Emmy Werner und ihrer Grundlagenstudie an Hawaiianischen Kindern, die 1977 veröffentlicht worden ist, bekannt und seither in vielen wissenschaftlichen Studien erforscht worden. Dennoch gibt es einige Irrtümer und Fehlannahmen, die sich teils hartnäckig halten. Jede(r) Coach und Trainer, der sich mit Burnout-Prophylaxe, Stärkung der Resilienz, Selbstmanagement oder ressourcen-stärkendem Arbeiten sowohl mit einzelnen Menschen, als auch in Gruppen in Unternehmen oder auch im personal Coaching beschäftigt, sollte diese kennen, um den Klient(innen) und Trainingsteilnehmer(innen) auch wirklich nachhaltige Unterstützung bieten zu können.

In diesem ersten Artikel über Resilienz geht es nun also darum, Dir Wissen zu vermitteln, das Du in Deiner Trainings- und Coaching-Praxis direkt anwenden kannst. Im zweiten Artikel wirst Du dann erfahren, wie Du als Trainer(in) oder Coach Unternehmen in ihrer Resilienz ganz konkret stärken kannst; wie der Einstieg in das Thema in einem Unternehmen gelingen kann, welche Strategien nachhaltig wirken und auf welchen Ebenen die Trainings und Coachings stattfinden sollten.

Wir beginnen mit dem ersten Irrglauben über Resilienz, der mir oft begegnet:

1. "Resilient sein bedeutet, Krisen gehen spurlos an mir vorbei!"

Das stimmt so nicht. In einigen Studien mit Mäusen, aber auch mit Menschen, zum Bespiel US-Marine Soldaten, konnte gezeigt werden, dass gerade diejenigen, die nach außen am stärksten und von dem Stressor am wenigsten berührt erschienen, die größten Umbauprozesse im Gehirn hatten. Deren Genexpressionen hatten sich am stärksten verändert um den, durch den Stress ausgelösten, physiologischen Veränderungen entgegenzuwirken. Das heißt also, dass gerade bei denjenigen, die sich durch einen bestimmten Stressor nicht unterkriegen lassen, große Veränderungen auf Zellebene im Körper ablaufen, die es erst ermöglichen mit dem Stress so souverän umzugehen. Resilienz auf (neuro-)biologischer Ebene bedeutet also ein Anpassungs- und Lernprozess auf einer, für unsere Augen nicht sichtbarer Ebene, der es erst ermöglicht, dass der Mensch trotz Stressoren gesund und weitgehend unbeschädigt bleibt1.

Es gibt gemeinhin drei Ausprägungen, die resiliente Reaktionsweisen beschreiben und die gut veranschaulichen, dass Resilienz ein dynamischer, flexibler und situationsspezifischer Prozess ist: Resistenz, Regeneration und Konfiguration. Diese sind auf jeden Fall mit einem Energieeinsatz verbunden. Nach einem Stressor, nach einer Krise, ist der Mensch nie derselbe wie davor. Das ist er aber auch schon von Sonntag auf Montag nicht mehr, denn jede Erfahrung verändert unser Gehirn und damit uns als Person und Persönlichkeit.

2. "Resiliente Menschen haut nichts um!"

Falsch! Auch resiliente Menschen können umgehauen werden, aber sie stehen wieder auf. Daher auch das Bild des „Stehaufmännchens“, wenn wir von Resilienz sprechen. Auch resiliente Menschen gehen nicht immer unbeschadet aus Krisen hervor. Allerdings haben sie einen geschickten Umgang, der es ihnen ermöglicht, die Krise als Chance zu sehen und die Veränderung als Wachstumsmöglichkeit. Damit haben sie eine größere Chance, gesund zu bleiben. Man nennt das in der Psychologie auch „posttraumatisches Wachstum“.

Menschen, die eine hohe Widerstandsfähigkeit haben und denen schlimme Dinge passieren, bemerken sehr wohl, dass sie ins Straucheln geraten, dass sie unter „Beschuss“ stehen, auch mal zu Boden gehen oder heftig im Wind schwanken. Zugleich sehen sie sich nicht als Opfer der Umstände, sondern konzentrieren sich auf ihre Handlungsoptionen (Selbstwirksamkeit) um das Ruder wieder in die Hand zu nehmen bzw. - wie es Aristoteles bereits formuliert hat - um ihre Segel anders zu setzen. Auf Postkarten findet man oft diesen lapidaren Spruch, der allerdings tatsächlich den Erkenntnissen der Resilienzforschung entspricht: „Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen!“

3. "Es gibt ganz klare Resilienz-Faktoren"

Leider behaupten einige Autor*innen und Trainer*innen, dass sie die wahren Resilienz Faktoren kennen würden. So einfach ist es (leider) nicht. Es gibt eine Vielzahl an Studien genau dazu, was Resilienz ausmacht und was diese Resilienz-Faktoren sind. Allerdings finden unterschiedliche Forschungsgruppen teils unterschiedliche Ergebnisse. Um hier Licht ins Dunkel zu bringen, lohnt es sich große Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen anzuschauen2. Diese zeigen, dass die Faktoren sich stark gegenseitig bedingen, also kaum unabhängig voneinander sind, dass Grenzen zwischen den Faktoren nur schwer zu ziehen sind und dass es die „wahren Resilienz-Faktoren“ so also nicht gibt. Um korrekt zu sein, schaut man sich am besten die Evidenzgrade an, was meine Kollegin Claudia Pusch und ich gemacht haben; und da zeigt sich, dass die Wirksamkeit folgender Faktoren am besten belegt ist:

  1. Optimismus
  2. Selbstwirksamkeitserwartung
  3. Selbstregulation
  4. Sinn & Werte
  5. Zukunfts- und Lösungsorientierung
  6. Soziales Netzwerk

Dazu kommen dann noch folgende Faktoren, die in der Literatur und Forschung auch immer wieder genannt werden: Bei Kindern und Jugendlichen: Intelligenz, eine gute Bindung zu wichtigen Bezugspersonen, Extinktions-Lernfähigkeit (z.B. nach einem Autounfall erstmal ausruhen, dann aber irgendwann wieder ins Auto setzen und bemerken, dass negative Erwartungen nicht eintreten), Akzeptanz, Verantwortungsübernahme, Empathie, Coping, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbstwert & Selbstakzeptanz, Hoffnung, Kohärenzgefühl, Hardiness, Religiosität & Spiritualität usw..

Ein wesentlicher Faktor, der in Bezug auf das Resilienz-Konzept leider noch nicht sehr gut erforscht ist, in anderen Bereichen aber sehr wohl herausragende Wirksamkeit zeigt, ist die Achtsamkeit. Wir gehen davon aus, dass Achtsamkeit die Basis vieler der aufgeführten Resilienz-Faktoren darstellt und daher als wesentliche Fähigkeit berücksichtigt werden sollte.

Du siehst, jede(r), der für sich behauptet, die wahren Resilienz-Faktoren zu kennen, lehnt sich zu weit aus dem Fenster, denn selbst die Forschung ist sich noch unsicher und steckt diesbezüglich in den Kinderschuhen.

4. "Resilienz ist messbar!"

In Auftragsklärungsgesprächen wird mir immer wieder die Frage gestellt, ob ich nicht einen Resilienz-Test bei Mitarbeiter*innen machen könnte, ob wir nicht die Resilienz vor und nach dem Training messen könnten. Es gibt Messinstrumente, die auch validiert sind (zum Beispiel: Resilienzskala RS-13, nach Leppert et al.), allerdings kommt es immer auf das Verhältnis der Symptome bzw. der Veränderung zur Beanspruchung an, wie Kalisch betont. Wer bei geringer Beanspruchung leichte Symptome entwickle, mag durchaus weniger resilient sein als jemand, der bei sehr hoher Belastung mittlere Symptome entwickele3.

Man kann Resilienz also nicht messen, ohne auch die Beanspruchung zu messen, der jemand ausgesetzt ist. Daher funktionieren Resilienz-Fragebögen auch nicht wirklich. Für keinen der bisherigen Fragebögen konnte laut Kalisch ein Vorhersage-Nutzen für langfristige Veränderungen der psychischen Gesundheit unter Beanspruchung nachgewiesen werden. Wenn wir Resilienz also messen, dann messen wir einen Zustand und nicht mehr eine Fähigkeit oder Eigenschaft sich zu adaptieren oder zu wandeln. Messen wir die Resilienz eines Menschen nach einer überstandenen Krise, dann messen wir ebenso bloß die beobachtbare Tatsache, dass dieser Mensch trotz Widrigkeiten einigermaßen gesund geblieben ist. Resilienz ist aber eine flexible Fähigkeit und besteht aus Veränderungen und Anpassungen. Es ist eben nicht ausschließlich die eine statische und damit zu Zeitpunkt x und y messbare innere Stärke oder seelische Widerstandskraft.

Was wir aber zum Beispiel erheben können und was mit diesen Resilienz-Fähigkeiten in Verbindung steht, ist die Lebensqualität, das Kohärenzgefühl (Salutogenese), die Selbstwirksamkeitserwartung, den Optimismus und die Dankbarkeit (siehe zum Beispiel: https://www.authentichappiness.sas.upenn.edu/ von Martin Seligman); wir können uns in der Biographie anschauen, wie mit früheren Belastungen und Widrigkeiten umgegangen worden ist und wir können Charaktereigenschaften, Talente und Fähigkeiten erheben. Außerdem können Fachärzte psychische Erkrankungen diagnostizieren. Im Zusammenhang mit Krisen und Stressoren sind hierbei Anpassungsstörungen, posttraumatische Belastungsstörung und Depression sowie Angststörungen relevante Erkrankungen. 

5. "Resilienz kann ich so trainieren, dass ich auf alles vorbereitet bin und zu einem resilienten Menschen werde, der alles überstehen kann!"

Leider muss ich auch diese Hoffnung enttäuschen, aber nur zum Teil. Resilienz bzw. die einzelnen Resilienz-Faktoren sind trainierbar. Man geht davon aus, dass ca. 50 Prozent unserer Persönlichkeitseigenschaften und damit unserer Resilienz-Fähigkeit genetisch bestimmt, also angeboren sind. Das heißt aber auch - für die Optimisten unter Euch - , dass 50 Prozent trainiert und verändert werden können.

Wenn wir es wollen, wenn wir motiviert sind, sind persönliches Wachstum und Veränderung möglich, wie etliche Studien belegen4. Bestimmte Erkrankungen sind mit bis zu 80 Prozent stark genetisch bestimmt. In diesen Fällen ist unser Handlungsspielraum geringer. Und dennoch: Wir können lernen, unser Denken, Fühlen und Verhalten zu ändern und eine andere Haltung anzunehmen. Allerdings entscheidet erst – wie wir bei den Messmethoden schon gehört haben – das kritische Ereignis, das Trauma, der Stressor oder die Herausforderung, wie resilient wir dann auch wirklich sind. Das lässt sich nicht vorhersagen und hängt auch ganz stark von unserer aktuellen Verfassung ab. Es gibt Menschen, die würden wir als den „Fels in der Brandung“ bezeichnen, Menschen, die schon allerhand Schlimmes überwunden haben und dann stirbt zum Beispiel der Partner und derselbe Mensch fällt in eine schwere Depression.

Auch wenn wir uns in unseren Resilienz-Faktoren trainieren, kann uns das leider keine Garantie geben, dass wir alles weitgehendst unbeschadet überstehen werden. Aber es gilt: es ist auch da besser, man hat ein gutes Fundament und eine Auswahl an Handlungsoptionen und Coping-Strategien. Insofern lohnt es sich natürlich diese Kompetenzen in guten Zeiten auszubauen, um dann in schwierigen Zeiten darauf zurückgreifen zu können. Aber – wie gesagt – das Leben ist nicht vorhersehbar.

Noch eine wichtige Erkenntnis zum Schluss, die auch oft nicht oder falsch transportiert wird: 

6. "Je weniger Krisen und Stressoren ich ausgesetzt bin, desto größere Chancen habe ich, gesund und resilient zu bleiben."

Das Gegenteil ist der Fall - nicht ganz, aber fast. Viele Jahre lang sagte die Forschung, es gebe einen Zusammenhang zwischen negativen Erlebnissen und einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit. Die gängige Meinung war, dass starke Stressoren krank machen. Mark Seery5 publizierte 2010 in seinem Artikel: „Whatever does not kill us“ dann aber folgende Ergebnisse seiner Studien: Menschen, die in ihrer Vergangenheit ein paar schwerwiegende negative Erlebnisse hatten, waren psychisch gesünder, weniger gestresst und auch mit ihrem Leben zufriedener, als Menschen, die gar keine oder nur sehr wenige solcher Erlebnisse hatten. Er nennt das den „steeling effect“.

Seery zeigt aber auch, dass ab einer gewissen Anzahl solcher negativen, einschneidenden Erlebnisse die psychische Beeinträchtigung mit jedem neuen Ereignis zunimmt. Im Bereich von null bis ca. vier solcher Stressoren oder Krisen im Leben eines erwachsenen Menschens gilt dieser Zusammenhang nicht. Im Durchschnitt waren diejenigen am gesündesten, die drei oder vier solcher schwierigen Ereignisse hatten, und zwar waren diejenigen sogar gesünder als die, die nur eines oder gar keines solcher Erlebnisse hatten. Damit ist auch Nietzsches Erkenntnis belegt: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“

Dies bedeutet also für unseren Alltag, dass wir uns Herausforderungen aussetzen müssen, dass wir uns im realen Privat- und Berufsleben Stressoren stellen sollten und Krisen annehmen, denn das schwächt uns nicht, sondern stärkt uns! Eine wichtige Erkenntnis, die ich in all meinen Coachings und Trainings zitiere, um die Angst vor Stress und Krisen zu nehmen.

Mit diesem Wissen um häufige Irrtümer im Bereich der Resilienz kannst Du nun fundiert und realistische Auftragsklärung betreiben, Deine Trainings aufwerten und im Coaching praktische und nachhaltige Unterstützung bieten.

Im nächsten Artikel geht es dann darum, wie Du in Unternehmen dieses Thema platzieren und auf den unterschiedlichen Ebenen implementieren kannst; wie Du mit Hindernissen umgehst und den Arbeitsgebern und Führungskräften die „Angst“ vor solchen „Psych-Themen“ nimmst sowie den Nutzen erklärst.

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Dr. Tatjana Reichhart ist Fachärztin für Psychiatrie und Verhaltenstherapeutin, war als Oberärztin in einer Universitätsklinik und in niedergelassener Praxis tätig. Schon seit 2011 hat sie sich parallel auf den Bereich der Prävention psychischer Erkrankungen für Privatpersonen und Unternehmen spezialisiert und hält deutschlandweit Workshops & Coachings für Führungskräfte und Mitarbeiter zu den Themen Resilienz, Selbstfürsorge, gesunde Führung & Kommunikation. Sie ist Co-Gründerin des Kitchen2Soul, das Seminar- und Coaching-Café mit Buchhandel in München, das auch die Regionalgruppe München des Trainertreffen Deutschlands ausrichtet. 2019 ist ihr Buch "Das Prinzip Selbstfürsorge" im Kösel Verlag erschienen. Mit Claudia Pusch bietet sie in der Kitchen2Soul Akademie u.a. die einjährige Ausbildung zum Resilienz Coach an. Weitere Infos: www.kitchen2soul.com und www.tatjana-reichhart.de 

Der Link zur Ausbildung: https://www.kitchen2soul.com/akademie/ausbildung-zum-resilienz-coach

 

Quellennachweis:

Raffael Kalisch: Der resiliente Mensch. Wie wir Krisen erleben und bewältigen. Neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie.2017. Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin

Zum Beispiel: https://www.bzga.de/infomaterialien/fachpublikationen/band-43-resilienz-und-psychologische-schutzfaktoren-im-erwachsenenalter/

Kalisch 2017, S. 37

4 Steimer, A./Mata, A.: »Motivated Implicit Theories of Personality. My Weaknesses Will Go Away, but My Strengths Are Here to Stay«, Personality and Social Psychology Bulletin 42 (4), 2016, S. 415–429

5 Seery, E. Alison Holman, Roxane Cohen Silver. Whatever does not kill us: Cumulative lifetime adversity, vulnerability, and resilience.. Journal of Personality and Social Psychology, 2010; DOI: 10.1037/a0021344.

 


Bildnachweis: Tatjana Reichart