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Bildnerische Methoden (1)

Wie Zeichnen im Coaching neue Perspektiven eröffnet

Sabine Mertens

Jeden Augenblick entstehen Bilder im Kopf. Sinnesorgane und Gehirn verarbeiten Reize, erkennen, gleichen ab, interpretieren, speichern. Wenn meine Klienten in Coaching und Supervision malen, halten sie flüchtige Eindrücke oder Äußerungen fest und machen so ihre ganz persönlichen Muster sichtbar, um sie für (Selbst-) Erkenntnis und Kommunikation zu nutzen. Das Malen vereinfacht komplexe Vorgänge. Durch die Übertragung in das dauerhafte Medium Bild lassen sich ungeahnte Zusammenhänge erkennen und die Maler entdecken neue Handlungsmöglichkeiten, während wir über die Bilder sprechen. In diesem Artikel lernen Sie, warum wir alle uns öfter mal „ein Bild machen“ sollten.

Bilder sind zunächst offen und vieldeutig, bis wir sie analysieren und die Zeichner ihnen im Zusammenhang mit den Erfahrungen, welche sie repräsen­tieren, Bedeutung zuweisen.

Die Zeichnungen entstehen im Coaching spontan, z.B. als Resonanzen zu Vorstellungen, Gefühlen, Ereignissen, Situationen. Sie ermöglichen einen sanften Einstieg in ein Beratungsgespräch und in das Thema des Zeichners. Bilder bieten einen hervorragenden (Unter-)Grund zum Probehandeln und helfen dabei, nicht nur aktuelle Konflikte zu bewältigen, sondern auch Zukunft spielend zu gestalten.

Es gibt viele Arten von Bildern: bewusste und unbewusste, innere und äußere, vorgestellte und manifeste, ferner Zeichen, Symbole und unzählige Sprachbilder in Form von Metaphern. Das Malen formt die Gedanken, und so entsteht eine visuelle Brücke zu einem Thema und seinen unbewussten Aspekten, wie im folgenden Bild von Frau P. „Ich habe das Gefühl, als käme unausweichlich ein Gewitter auf mich zu, und ich habe keinen Einfluss darauf“, beschreibt sie ihr Bild. Die Gewitterwolke mit dem Blitz darunter repräsentiert ein scheinbar grundlos bedrohliches Ereignis. Im Gespräch stellt sich heraus, dass ein bevorstehender Auftrag alte Prüfungs- und Versagensängste wachgerufen hat. Die Naturmetapher veranschaulicht hier besonders gut die Stärke der emotionalen Ladung, welche die Zeichnerin in ihrer aktuellen Situation empfindet.

sabine mertens 151224a Resonanzbild zu einer Situation, Frau P.

„Ich kann nicht malen!“

Derlei Bedenken zu Beginn eines Coaching-Prozesses sind leicht zerstreut, denn alle Menschen besitzen eine grundsätzliche Bildkompetenz, selbst jene, die meinen, nicht malen oder zeichnen zu können. Dass sich derlei Fähigkeiten früh entwickeln und zum menschlichen Basisrüstzeug gehören, erschließt sich sehr einfach durch die Beobachtung von Kindern. Wenn ich meinen zweijährigen Enkel frage: „Wie macht das Flugzeug?“, dann zeichnet er mit der Hand einen Bogen in die Luft, begleitet von einer sachten Drehung des Körpers und einem Motorengeräusch, „Dsch!“ Er vollzieht die Landungen der Flugzeuge nach, die er beobachtet bzw. erlebt hat. Selbst seine Stimme vollzieht den eigenhändig gezeichneten Bogen mit: Der die Bewegung begleitende Laut ist ein Glissando, er beginnt auf mittlerer Tonhöhe und fällt dann etwas ab. Die Erfahrung der Landung ist offenbar in seinem Körper ganzheitlich repräsentiert. Zeichnen unterstützt das sinnliche Ausdrucksvermögen und macht derlei komplexe Vorgänge sichtbar.

Darüber hinaus zeigen eigenhändig gemalte Bilder auf, welche Konzepte, verinnerlichten Strategien und Glaubenssätze Einfluss auf Verhalten und Kommunikation der Zeichner haben, sowohl hinderliche als auch förderliche Aspekte, wie im folgenden Bild von Frau R. Für die hinderlichen Aspekte steht die Verengung des schwarzen Zylinders, die Frau Rs Gefühl der Enge und ihren „Energiestau“ repräsentiert, für die förderlichen steht das Aufsteigen, in Bewegung geraten und „ausbrechen“ der Farbe nach langer Zeit des Stillstands.

sabine mertens 151224b „Bewegung“, Frau R.

Eingefahrene Muster überwinden

Ein jeder kann mit Stift und Papier eine bildliche Darstellung innerer wie äußerer Vorgänge geben, wie z.B. nach dem Schema Punkt, Punkt, Komma, Strich. Selbst Dinge, die wir weder in Worte noch in ein einfaches Zeichenschema fassen können, sind bildlich darstellbar, z.B. durch abstrakte Formen, Linien oder Schraffuren, wie das folgende Bild von Frau R zeigt.

sabine mertens 151224c „Wut“, Frau R.

Oft sind die ins Coaching mitgebrachten Probleme nur Kulissen für unbewältigte emotionale Herausforderungen der Vergangenheit. Außenseiter, Versager, Konfliktvermeider, usw., sie alle verkörpern prototypische Erfahrungsmuster. Bleiben alte Verhaltens- und Glaubensmuster ungelöst, können sie auf Dauer die gesunde Widerstandsfähigkeit untergraben. Ein Teufelskreis setzt ein.

sabine mertens 151224d Resonanzbild zum Gefühl „Ausgeschlossen-Sein

sabine mertens 151224e Leere/Looser, Frau R.

sabine mertens 151224f Konflikte und Gefahren, Herr Ü.

Emotionales Selbstmanagement durch ästhetische Praxis

Nicht an der besonderen Schwere der heutigen Herausforderungen, sondern an unserem Umgang mit ihnen zeigt sich unser Stand der Selbstregulation und Resilienz. Wer kennt nicht derlei schockierende Ereignisse aus dem engeren Umkreis oder aus eigener Erfahrung: wir verlieren den Job, der uns ernährt, der Lebenspartner verlässt uns, jemand Nahestehender stirbt vor der Zeit, ein pubertierendes Kind entfremdet sich der Familie durch pathologisches Verhalten, eine Steuernachzahlung droht, die Existenz zu vernichten, mit der Selbstständigkeit geht es nicht voran wie geplant usw. Bilder machen deutlich, worauf wir unbewusst fokussieren und wie wir mit den Widerfahrnissen des Lebens auf einer tieferen Ebene umgehen. Die Zahl der Menschen, die auf derlei Herausforderungen mit (Existenz-) Angst, Burnout oder Depression reagiert, steigt seit Jahren stetig an, proportional zur Nachfrage nach professioneller Hilfe. Bilder können helfen, Ängsten und Bedrückungen ins Auge zu blicken und wieder handlungsfähig zu werden.

Malen gibt Orientierung, vertieft Selbstvertrauen und eröffnet Handlungsspielräume

Paradox: Empathische Berater, also Kollegen mit sehr ausgeprägtem Einfühlungsvermögen, sind besonders gefährdet, sich das Leid ihrer Klienten zu Herzen gehen zu lassen; so geraten sie leicht zusammen mit ihnen in eine Sackgasse. Wie groß ist da die Versuchung, das Problem stellvertretend für sie zu lösen, nicht zuletzt auch, weil man glaubt, seine Beratungskompetenz unter Beweis stellen zu müssen. Malen eröffnet nicht nur den Malern Wege, trotz aller widrigen Umstände Orientierung und Kraft zu finden, ihr Selbstvertrauen zu vertiefen und Handlungsspielraum zu gewinnen.

Malen entlastet auch Berater und Coaches

Gleichzeitig entlastet es auch Berater und Coaches von der narzisstisch geprägten Versuchung zu helfen, denn die bildliche Darstellung eines Problems gibt wichtige Hinweise auf ungenutzte Ressourcen und sinnvolle wie praktikable Lösungen, wenn man die Sprache der Bilder zu lesen versteht.

Reinszenierung von Erfahrungsmustern am Arbeitsplatz - Bilder lesen lernen

Was die Dynamik von Konflikten am Arbeitsplatz oft brisant macht, sind die unbewussten Fixierungen, Skripte und Reinszenierungen der beteiligten Akteure. Auch sie spiegeln sich in den Zeichnungen wieder. Die Zeichnerin des nächsten Bildes hat sich selbst in der Mitte dargestellt (der unterstrichene Kopf), zusammen mit ihrem Fluchtimpuls aus einer als ausweglos empfundenen Situation am Arbeitsplatz (der unterbrochene Pfeil nach links unten); zwischen einer Kollegin (der als Blüte gedachten Form links) und dem als bedrohlich und bedrängend empfundenen Vorgesetzten (Figur und diverse Pfeile rechts im Bild) sieht sie sich hier in Bedrängnis, wie früher zwischen ihren Eltern.

sabine mertens 151224g Resonanzbild zu einer Situation am Arbeitsplatz

Die wichtigsten Wirkfaktoren des Malens

Die wichtigsten Wirkfaktoren des Malens und Zeichnens im Coaching sind:

  • eigenhändige Gestaltung der Bilder,
  • Bewusstwerdung und Neuordnung von
    persönlichen, aktuell bedeutsamen
    Erfahrungen
  • sowie ihre Verknüpfung mit dazugehörigen Gefühlen bzw. Emotionen,
  • ferner Selbstreflexion und Selbstregulation
  • sowie die Möglichkeit des Probehandelns
  • und der Zukunftskonstruktion.

Spontan gezeichnete Bilder schaffen Klarheit über ein Thema und lassen im Nu Ressourcen, Potenziale, Konflikte und Blockaden erkennen, aus denen, ggf. mit Hilfe des Coaches oder Beraters, passgenaue Handlungsmöglichkeiten abgeleitet werden können.

Bilder wirken nachhaltig

Aufgesetzte Erfolgsstrategien funktionieren nachweislich nur kurzfristig oder gar nicht. Umso wertvoller sind Klientenbilder für Coaches und Berater, die Wachstums- und Veränderungsprozesse erfolgreich begleiten und langfristig tragfähige Entscheidungen befördern wollen. Sie können als Wegweiser zu den von den Zeichnern selbst angelegten Problemlösungen dienen. Es versteht sich, dass diese spontanen Zeichnungen keinerlei Anspruch auf künstlerische Qualität oder Produktcharakter erheben. Im geschützten Rahmen eines Coachingprozesses dienen sie ausschließlich der Selbsterkenntnis und -reflexion.

Lesen wir also bildhafte Gestaltungen als Ausdruck physischer, neuronaler und emotionaler Prozesse, finden wir bald heraus, dass diese einander wechselseitig bedingen und gleichsam unsere Bewusstseinsaktivitäten beeinflussen. Die Persönlichkeit ist die sichtbare Schnittstelle zwischen dem Selbst und dem sozialen Wesen, das wir zum Beispiel bei der Arbeit sind. Im Umgang mit eigenhändig gemalten Bildern erkennen wir uns selbst. Wir erhalten und fördern unsere psychische Gesundheit und lernen Selbstpraktiken (allen voran die Affektregulierung), die ein Leben lang als Werkzeuge dienen können, um die Herausforderungen des Lebens aktiv handelnd zu meistern.

Literatur-Empfehlungen

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Sabine Mertens
Wie Zeichnen im Coaching neue
Perspektiven eröffnet
Beltz Verlag 2014

  • Karl E. Weick: Der Prozeß des Organisierens, Suhrkamp 1995 (Enactment-Theorie)
  • Martina Lauterjung: Emographie für Weiter­bildner, Trainer-Journal 6/14, 10/14, 2/15
    (zur Verknüpfung von Emotion und Graphik)
  • www.skizzier-blog.de

Die Autorin: Sabine Mertens

ist Kunsttherapeutin und Psychotherapeutin HPG in eigener Praxis in Hamburg. Ihr Schwerpunkt in Diagnostik, Coaching, Training und Supervision ist die systemische Bearbeitung von Klientenzeichnungen. Ihre Leidenschaft ist emotionales Selbstmanagement und die VerFührung ihrer Mitmenschen zur Selbst­führung.

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Dies ist der erste Artikel einer Serie, die im TrainerJournal des TTD erscheint.