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Neuromythen & Hirnlegenden (3)

Die Lerntypen-Illusion

Dr. Henning Beck

Wie sehr nutzen Sie Ihr Gehirn? Arbeiten Sie immer am Anschlag und haben das Gefühl, am Limit ihrer neuronalen Kraft zu sein? Oder haben Sie eher den Eindruck, dass sich noch ungenutzte Kapazität zwischen Ihren Nervenzellen verbirgt? Nicht alles, was in unserem Gehirn abläuft, kriegen wir ja auch bewusst mit. Wir haben schließlich schon vom „Unterbewusstsein“ gehört, dass also Dinge in unserem Denkorgan ablaufen, die uns verborgen bleiben. Ist es da nicht logisch, dass wir nur einen Bruchteil unserer Kapazität bewusst nutzen? Oft hört man, dass diese Grenze bei 10 Prozent liege, oder bei 7 Prozent oder 15 – jedenfalls deutlich zu wenig, als dass man behaupten könnte, wir machen wirklich das Beste aus unserem Gehirn. Doch stimmt das überhaupt? Läuft unser Nervennetzwerk die ganze Zeit auf Sparflamme und wartet nur darauf, den Denkturbo zu zünden?

Der ungenutzte Rest

In der Behauptung, wir nutzten nur 10 Prozent unserer geistigen Kapazität steckt eine ganze Menge Hoffnung: Denn zu welchen Leistungen wären wir wohl imstande, wenn wir die ungenutzten 90 Prozent aktivieren könnten? Nicht nur Kinofilme, auch heilsversprechende Selbsthilfeliteratur und manches Mentaltraining bauen auf diesem Wunsch nach geistiger Optimierung auf und versprechen die 10 Prozent-Grenze zu überwinden. Dieser Wunsch ist berechtigt – und doch unsinnig. Denn wie immer im Falle voreiliger Neuromythen hilft es, wenn man sich anschaut, wie ein Gehirn prinzipiell funktioniert.

Unser Nervennetzwerk ist einem andauernden Optimierungsprozess unterworfen. Oft stellt man sich dabei vor, dass Nervenzellen ständig neue Kontakte zu ihren Nachbarzellen knüpfen, „neue Synapsen sprießen lassen“ und dadurch immer besser funktionieren. Tatsächlich ist es jedoch genau anders herum: Viel wichtiger als das Wachstum neuer Zellen und Synapsen ist deren Absterben. Der angeblich ungenutzte Rest existiert deswegen gar nicht mehr. Was wäre das auch für eine ungeheure Verschwendung, wenn ein so effizientes Organ ungenutzte Reservekapazität mit sich herumschleppen würde?

Der Trick des Ausmistens

Nur ganz zu Beginn unseres Lebens gibt es eine Phase in der wir „ungenutzte“ Neuronen im Gehirn haben. Tatsächlich kommen wir mit einem Überschuss an Nervenzellen und -verbindungen zur Welt – und von da an geht es eigentlich nur noch bergab: Über die Hälfte aller Nervenzellen und über 80 Prozent aller Verbindungen sterben in den ersten Lebensjahren ab. Das hört sich schlimmer an als es ist, denn dadurch bleibt nur das übrig, was auch ständig genutzt wird. Jede Nervenzelle muss sich nämlich ihre Daseinsberechtigung im Netzwerk durch ständige Aktivierung verdienen. Jeder Reiz, jede Empfindung, jeder Gedanke bewirkt, dass bestimmte Nervenzellen charakteristisch aktiviert werden. Jedes Mal, wenn Sie also an etwas denken, etwas lernen oder etwas Neues entwickeln, sind einige Nervenzellen aktiv und werden in ihrer Struktur verstärkt. So verankern sie sich besser im Netzwerk.

Bleibt diese Aktivierung jedoch aus, verlieren die Zellen nach und nach ihre Verbindungen zu den Nachbarzellen. Schließlich gehen sie in ein kontrolliertes Selbstmordprogramm über und opfern sich für das Wohl des Restes. Was nicht benötigt wird, kommt weg. „Use it or lose it“ – Nutze es oder verlier es! Und übrig bleibt nur ein Bruchteil der ursprünglichen Neurone, doch dieser wird komplett genutzt.

Mit anderen Worten: Die angeblich ungenutzte Kapazität in Ihrem Gehirn (die 90 Prozent) ist im Laufe Ihres Lebens längst entsorgt worden. Das Ergebnis, die Struktur und Architektur Ihres Nervennetzwerks, ist das Ergebnis eines erfolgreichen jahrzehntelangen Ausmistens bei dem nur die besten und aktivsten Zellen überlebt haben. So wird Ihr Gehirn letztendlich zum Resultat dessen, wie sehr Sie es in Ihrem Leben nutzten.

100 Prozent ist noch nicht alles

Im Prinzip ist das Gehirn also ein ständig absterbendes Gewebe, das immer am Anschlag läuft. Für alle, die durch diese neurowissenschaftliche Erkenntnis etwas enttäuscht sind (schließlich nimmt es ja ein wenig die Hoffnung, ungenutzte Reserven des Hirngewebes zu aktivieren), gibt es jedoch gute Nachrichten: Auch wenn das Gehirn komplett ausgelastet arbeitet und kein Bereich ungenutzt bleibt, heißt das noch nicht, dass Sie an der Grenze Ihrer geistigen Leistungsfähigkeit angekommen sind. Sie arbeiten zwar mit 100 Prozent – doch was diese 100 Prozent sind, entscheiden Sie.

Es klingt paradox, doch gerade weil das Gehirn unter Volllast arbeitet, kann es noch mehr. Lernvorgänge sind nämlich auf funktionierende Nervenzellen im Netzwerk angewiesen – und nur wenn die Zellen ständig genutzt werden, können Sie auch etwas Neues lernen.

Die Nervenzellen fordern

Wenn Sie Ihre Nervenzellen bestmöglich aktivieren wollen, damit Sie flexibel und kreativ denken können, erinnern Sie sich daran, wie Nervenzellen funktionieren: Sie sind Meister im Erkennen von wiederkehrenden Mustern und passen sich entsprechend an. Wenn Sie also etwas häufig tun, werden die dafür wichtigen Kontakte im Netzwerk verstärkt, die unwichtigen gekappt. So entsteht das, was wir „Denkschubladen“ oder -schablonen nennen, Routinen im Denken. Diese sind wichtig, damit das Gehirn in der Welt den Überblick behält. Doch manchmal engen sie auch unseren Blick ein. Wer also verhindern will, dass er in eingefahrenen Denkmustern gefangen bleibt, kann seine Nervenzellen ungewohnt stimulieren und dabei auf folgende drei Prinzipien achten.

Kommunikation – Um überhaupt die Möglichkeit zu bekommen, sein Nervennetzwerk zu verändern, muss das Gehirn in Kontakt zur Außenwelt treten. Und zwar am besten interaktiv. Nichts ist so anregend wie der Austausch mit anderen Menschen. Ob sie Ihnen gut vertraut oder unbekannt sind, ist dabei erst einmal egal. Hauptsache, man nutzt die Möglichkeit und tauscht Gedanken aus. Nur so bekommen wir überhaupt die Möglichkeit, unser eigenes Denken zu reflektieren und zu ändern. Studien zeigen, dass Gespräche mit Mitmenschen nicht nur die eigenen Gedanken fördern, sondern die Leistungsfähigkeit des Gehirns bis ins hohe Alter erhalten.

Tipp: Unterhalten Sie sich oft mit anderen Menschen. Besuchen Sie Veranstaltungen oder treffen Sie sich mit Freunden. Das bringt Ihnen nicht nur neue Eindrücke, sondern fördert auch die Ausgestaltung eigener Gedanken.

Andersartigkeit – Gehirne streben danach, Routinen zu entwickeln. Manchmal ist es deswegen trickreich, bekannte Denkwege aktiv zu durchbrechen, um den vermeintlichen Optimierungsprozess des Gehirns (der jedoch schnell in festgefahrenen Denkritualen enden kann) zu beeinflussen. Untersuchungen belegen, dass schon kleine Änderungen im Alltag helfen können, Denkschubladen zu überwinden.

Tipp: Machen Sie das Übliche mal etwas anders. Nehmen Sie einen anderen Weg zur Arbeit oder ändern Sie die Sitzordnung bei sich zu Hause oder im Seminar. Sie werden überrascht sein, wie ungewohnt die Perspektiven plötzlich werden.

Fremdheit – Oft sind wir fremden Erfahrungen erst einmal skeptisch gegenüber gestellt. Das Fremde birgt auch immer eine gewisse „Gefahr des Unbekannten“. Um Ihrem Nervennetzwerk jedoch die Möglichkeit zu geben, auf neue Reize zu reagieren, gibt es allerdings nichts Besseres als etwas Ungewohntes auszuprobieren. Das erfordert manchmal Mut, der jedoch oft belohnt wird.

Tipp: Gönnen Sie sich von Zeit zu Zeit die Möglichkeit, fremde Länder oder Kulturen zu bereisen. Und wem das zu weit ist: Schon der Besuch einer ungewohnten Veranstaltung (eines Theaterstückes oder eines Konzerts) bringt ihrem Gehirn einen neuen Impuls.

Literatur-Empfehlung

Henning Beck: 
Hirnrissig.
Die 20,5 größten Neuromythen – und wie unser Gehirn wirklich tickt
CARL HANSER Verlag, 2014
272 S., 16,90 Euro

Der Autor: Dr. Henning Beck

Jg. 1983, ist Biochemiker und promovierter Neurowissenschaftler der Graduate School of Cellular & Molecular Neuroscience in Tübingen. 2013 arbeitete er an der University of California in Berkeley und entwickelte für Unternehmen in der San Francisco Bay Area moderne Innovations- und Marketingstrategien. Er ist Autor mehrerer Bücher und hält Vorträge und Workshops zu Themen wie Hirnforschung, Kreativität und Innovation. Mit seiner ungewöhnlichen Vortragsidee wurde Henning Beck mehrfacher Science Slam Gewinner und Deutscher Science Slam Meister 2012. Henning Beck lebt in Frankfurt.

beck@henning-beck.com 
www.henning-beck.com