Erfülltes Leben

Muss Lernen Sinn haben?

Ebenso wie es aus neurobiologischer Sicht unmöglich ist zu leben, ohne zu lernen, ist es aus hirntechnischer Sicht unmöglich zu leben und zu lernen, ohne seinem Leben und Lernen Sinn zu verleihen: Auf Grund seines enorm plastischen, zeitlebens lernfähigen, sich durch sinnliche Erfahrungen strukturierenden Gehirns ist jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens darauf angewiesen, neue Sinneseindrücken bzw. die durch neue Wahrnehmungen im Gehirn generierten Erregungsmuster mit den durch vorangegangene Erfahrungen entstandenen und stabilisierten synaptischen Verschaltungsmustern in Einklang zu bringen, ihnen also „Sinn“ zu verleihen.

Die Suche nach Sinn ist also kein nutzloses oder esoterisches Unterfangen, sondern eine, sich aus der Arbeitsweise und der Strukturierung des menschlichen Gehirns zwangsläufig ergebende Notwendigkeit.

Die Hirnentwicklung lässt sich als ein Prozess der sukzessiven Herausformung von in sinnvoller Weise den ältern Strukturen jeweils übergeordneten und diesen älteren Strukturen selbst wieder Sinn-verleihenden Metarepräsentanzen verstehen.

Durch die im Verlauf von Erziehung und Sozialisation gemachten Erfahrungen kommt es zu strukturell im Gehirn verankerten Anpassungsleistungen, die aus sozialer Sicht zwar sinnvoll, aber mit den am eigenen Leib gemachten Erfahrungen unvereinbar – sinnlos – sind. Die damit einhergehende Entfremdung wird so zur Triebfeder einer lebenslangen Suche nach Kohärenz zwischen selbstgemachten und von anderen übernommenen Erfahrungen – der Suche nach Sinn.

Was ist ein sinnerfülltes Leben?

Das Leben, das die meisten Menschen gegenwärtig führen, gleicht einem Wettrennen. Wer zu langsam vorankommt oder gar Umwege macht, landet auf der Verliererstrecke. Das ist unsere alltägliche Erfahrung, sei es bei der Jagd nach einem Sonderangebot, auf der Suche nach einem passenden Partner, an der Arbeit, bei der Berufswahl und natürlich auch schon während des Studiums. Alles muss schnell gehen, so schnell wie möglich, und zwar von Anfang an: Laufen Lernen, Sprechen Lernen, Lesen Lernen, Mathe, Englisch, Biologie, Chemie, Physik möglichst schon im Kindergarten, den Schulstoff durchziehen, das Studium absolvieren, Karriere machen und so weiter und so weiter.

Je schneller, desto besser. Bloß nicht hängen bleiben, bloß nicht versagen, bloß nichts verpassen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Aber stimmt das wirklich?

Könnte es nicht sein, dass man das Leben in Wirklichkeit verpasst, wenn man immer nur von einem vermeintlichen Ziel zum nächsten jagt?

Und wer weiß schon, ob die jeweiligen Ziele, die wir verfolgen, überhaupt die richtigen Ziele sind. Vielleicht kommt es für ein glückliches und erfülltes Leben gar nicht so sehr darauf an, besonders schnell irgendwo anzukommen. Bleibt bei dieser Hatz nicht automatisch vieles „auf der Strecke“, was für ein glückliches und erfülltes Leben dringend gebraucht wird? Und was ist mit all jenen, die wir in diesem Wettrennen hinter uns gelassen, vielleicht sogar rücksichtslos überrannt haben? Was für ein sonderbares Rennen ist das, an dem sich fast alle beteiligen, obwohl es kaum jemanden glücklich, dafür aber sehr viele krank macht? Haben wir das, worauf es im Leben ankommt aus den Augen verloren? Sind wir uns selbst fremd geworden aus lauter Angst, zu spät zu kommen, etwas zu verpassen oder etwas falsch zu machen?

Was sind sinnvolle Übereinkünfte?

Wo immer Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen zusammenkommen, um die aus diesen Erfahrungen gewonnenen Vorstellungen auszutauschen, müssen sie auch gemeinsam nach Lösungen für die Probleme suchen, die sich aus der Unterschiedlichkeit ihrer bisher gemachten Erfahrungen und den daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zwangsläufig ergeben. Der einfachste und deshalb wohl auch am häufigsten beschrittene Weg bei dieser Suche nach einer Lösung für ein bestimmtes Problem läuft darauf hinaus, dass sich der Eine mit seinen Überzeugungen durch- und über den Anderen hinwegsetzt, sei es auf Grund seiner überlegenen rhetorischen Fähigkeiten, seiner besonders kompromisslos vertretenen Haltung oder seiner als kompetenter und überlegener erscheinenden Fähigkeiten und Fertigkeiten bei der Einschätzung und Lösung der betreffenden Problematik. Die mit derartigen Überrumpelungstechniken erreichten Übereinkünfte zeichnen sich in erster Linie durch ihre zwangsläufig zu Stande gekommene Einseitigkeit aus. Was bei dieser Art von Disputen gefunden wird, sind zwar sehr schnelle, dafür aber wenig tragfähige Lösungen.

Eine ganz andere, weitaus bessere Strategie, die Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und ihren daraus abgeleiteten unterschiedlichen Vorstellungen zur Lösung gemeinsamer Probleme einschlagen können, besteht darin, einander Fragen zu stellen. Fragen, die nicht so sehr darauf ausgerichtet sind, wie sich ein bestimmtes Ziel am besten und am schnellsten erreichen lässt, sondern Fragen, die uns in all unserer Verschiedenheit zwingen, darüber nachzudenken, welches gemeinsame Ziel wir eigentlich verfolgen, was uns wichtig und deshalb vorrangig zu behandeln ist und was uns weniger wichtig erscheint und daher nebensächlich bleiben kann.

Was sind sinnvolle Erkenntnisse?

Und wer erst einmal das Ziel seiner Bemühungen beschreiben kann, der ist normalerweise auch in der Lage, vor sich selbst und gegenüber anderen zu begründen, weshalb ihm ausgerechnet dieses Ziel so außerordentlich am Herzen liegt. Darauf gibt es dann nur noch eine Antwort: weil es aus seiner Perspektive das einzige ist, was zu seinen Überzeugungen und Orientierungen passt, was also für ihn sinnvoll ist. Alles andere erscheint ihm in seinen Augen als sinnlos. Vor zehn oder 20 Jahren hätte die betreffende Person aber vielleicht noch ganz andere Orientierungen und Überzeugungen gehabt. Damals hatte für ihn oder für sie also möglicherweise etwas anderes viel mehr Sinn. Während der Zeit als Jugendlicher war es wieder etwas Anderes, was damals besonders sinnvoll erschien, und welche Ziele er oder sie davor, während der Kindheit aus welchem Grund verfolgt hatte, ist zwar kaum noch erinnerbar, aber irgendwelche Orientierungen oder Erwartungshaltungen muss es auch während dieser frühen Entwicklungsphase bereits gegeben haben. Denn neues Wissen kann ja nur als Erweiterung an bereits Vorhandenes angehängt werden. Es muss also zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens bereits bestimmte, bis dahin gebildete Verschaltungsmuster im Hirn geben, an die das jeweils Neue angekoppelt, mit denen der neue Sinneseindruck, die neue Erfahrung, die neue Erkenntnis assoziiert werden kann. Was schon da ist, was an Verknüpfungen im Gehirn bereits entstanden ist, ist also entscheidend dafür, wie das Neue beschaffen sein muss, damit es zum bereits Vorhandenen passt. Wenn es passt, hat es einen Sinn, wenn es nicht passt, wird es als Unsinn abgetan.

Bisweilen dauert es etwas länger und man muss gewissermaßen erst verschiedene der auf Grund früherer Erfahrungen im Hirn entstandenen Verschaltungsmuster aktivieren, vielleicht auch auf neue Weise miteinander in Beziehung bringen, bis sich etwas Neues in den Schatz der bereits vorhandenen Erfahrungen sinnvoll integrieren lässt. Die mit solchen „Aha-Erlebnissen“ einhergehende Begeisterung führt zur Aktivierung des so genannten „Belohnungssystems“, und damit zur Ausschüttung von Dopamin und endogenen Opiaten im Gehirn. Der daraus resultierende Effekt ist vergleichbar mit dem, was auch nach der Einnahme von Kokain und Heroin passiert: Man kann, wenn man das öfter erlebt, süchtig nach solchen Aha-Erlebnissen werden. Deshalb nennen wir die Suche von Menschen nach integrierbaren, d. h. Sinn-vollen neuen Erfahrungen auch Neu“gier“.

Weil Kinder noch sehr offen sind und noch nicht so viele fest gefügte Überzeugungen in Form von Vorurteilen haben, erleben sie diesen Zustand wesentlich häufiger als die meisten Erwachsenen. Sie haben also mehr Erfolg bei der Suche nach Sinn, können auch Vielem noch Sinn verleihen, was von den Erwachsenen als Unsinn abgetan wird – jedenfalls so lange, bis sie sich im Lauf von Erziehung und Sozialisation all die Überzeugungen, Vorstellungen und Vorurteile derjenigen zu eigen gemacht haben, an denen sie sich orientieren. Das sind all jene Menschen, die über Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen, die entweder in ihren Augen Sinn ergeben oder die ganz einfach notwendig sind, die man beherrschen muss, um zu diesen Vorbildern dazu zu gehören, sich mit ihnen verbunden zu fühlen. Diese Suche nach Zugehörigkeit und Geborgenheit ist ebenso Sinn-voll, denn sie knüpft ja eng an bisherige Erfahrungen von Verbundenheit und Geborgenheit an.

So gerät jeder Mensch auf seiner Suche nach Sinn früher oder später in ein Dilemma: Weil es einen Sinn ergibt, zu anderen dazuzugehören und mit anderen verbunden zu sein, führt die dazu erforderliche Übernahme von deren Überzeugungen, Vorstellungen und Vorurteilen zwangsläufig dazu, dass nun viele neue Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erlebnisse, die vorher noch gut integrierbar gewesen wären, jetzt – d. h. in dem nun von anderen übernommenen Bewertungsmaßstab – nicht mehr passen, also keinen Sinn mehr ergeben (z. B. das Krabbeln auf allen Vieren). Andererseits gewinnen durch diesen von anderen übernommenen Bewertungsmaßstab nun auch Ziele und Bestrebungen Sinn, die ursprünglich nicht an das eigene Wissen anknüpfbar, also sinnlos waren (z. B. das passive Herumsitzen vor einem Fernsehgerät).

Ohne es zu bemerken, entfremdet sich so jeder Mensch im Verlauf seiner Erziehung und Sozialisation von seinen ursprünglich auf Grund seiner am eigenen Körper und mit allen Sinnen gemachten und in seinem Gehirn verankerten Erfahrungen, seinem authentischen Selbst. Er übernimmt dabei zunehmend die Überzeugungen und Vorstellungen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten und das Wissen all jener Menschen, unter deren Obhut er aufwächst, die ihm wichtig und bedeutsam sind. Diese nicht mehr selbst, d. h. am eigenen Leib gemachten, sondern von anderen übernommenen und ebenfalls im Hirn verankerten Kenntnisse, Vorstellungen und Überzeugungen rekrutieren nun das, was man vielleicht fremdbestimmtes oder pseudo-Selbst bezeichnen müsste.

Ein Psychoanalytiker würde mit Winnicott vom Wahren und vom Falschen Selbst reden. Aber diese fremden Anteile werden ja von der betreffenden Person in einer eigenen Anstrengung aktiv integriert. Oft handelt es sich dabei sogar um einen recht schmerzvollen Prozess der Unterdrückung, Verdrängung oder Abspaltung bestimmter, nun nicht mehr als „passend“ empfundener Anteile des ursprünglichen authentischen Selbst. Und manche der im Zusammenleben mit anderen Menschen gemachten Erfahrungen und der von diesen Menschen übernommen Vorstellungen sind ja durchaus auch noch recht gut mit den bisherigen Erfahrungen vereinbar, sind also auch weiterhin sinnvoll.

Was sich im Verlauf dieses Erziehungs- und Sozialisationsprozesses herausbildet, ist also ein für die betreffende Person spezifisches, individuell entstandenes Konglomerat von Selbstgemachtem und von anderen übernommenen Anteilen, das so genannte „Ich“. Dieses „Ich“ macht sich nun im weiteren Verlauf auf die Suche nach Wahrnehmungen, Erlebnissen, Ideen und Vorstellungen, die irgendwie zu dem passen, was es entweder am eigenen Leib erfahren oder von anderen übernommen hat. So sucht also jeder Mensch nach Sinn, im Kindergarten, in der Schule und natürlich auch in der Universität. Es geht gar nicht anders. Denn „das Leben selbst ist“, wie Konrad Lorenz es so treffend auf den Punkt gebracht hat, „ein erkenntnisgewinnender Prozess.“

Wie sich unser Gehirn entwickelt, ist sinnvoll

Alles, was ein Mensch an wichtigen Erfahrungen über sich selbst, über seinen Körper und seine Beziehung zur äußeren Welt gesammelt hat, ist in Form bestimmter Verschaltungsmuster von Nervenzellen in seinem Gehirn als innere Repräsentanz verankert worden, das meiste bereits während der Kindheit, vieles davon auch schon vor der Geburt. Jede neue Wahrnehmung, also ein neuer Duft, eine neue Berührung, ein neues Geräusch oder ein neuer Sinneseindruck erzeugt im Gehirn ein entsprechendes Aktivierungsmuster, ein „Wahrnehmungsbild“.

Im Gehirn wird nun versucht, ein bereits vorhandenes Nervenzell-Verschaltungsmuster zu aktivieren (ein „Erinnerungsbild“), das irgendwie zu dem durch die neue sinnliche Wahrnehmung entstandenen Aktivierungsmuster passt. Stimmen beide Bilder (das vorhandene Erinnerungsbild und das neue Wahrnehmungsbild) völlig überein, so wird der neue Eindruck als bekannt abgetan und entsprechend (routinemäßig) beantwortet. Kann keinerlei Überlappung zwischen dem Neuen und irgendeinem bereits vorhandenen Bild hergestellt werden, so passiert gar nichts. Das neue Wahrnehmungsbild wird gewissermaßen als ein nicht zu den bisherigen Erfahrungen passendes Trugbild verworfen. Interessant wird es immer dann, wenn das aus dem Gedächtnis abgerufene Erinnerungsbild zumindest teilweise zu dem neuen Wahrnehmungsbild passt. Dann wird das alte Muster so lange geöffnet, erweitert und umgestaltet, bis das durch die neue Wahrnehmung entstandene Aktivierungsmuster in das nun modifizierte Erinnerungsbild integriert werden kann. Das wird dann als erweitetes inneres Muster festgehalten und für künftige Wahrnehmungen zum Abgleich erneut abgerufen. Dieses Muster bestimmt nun auch seine künftigen Erwartungen.

Ein Mensch nimmt nie alles wahr, was ihm angeboten wird, sondern nur das, was irgendwie zu seinen Vorstellungen und Erwartungen (also zu seinen bisher gemachten Erfahrungen) passt, also Sinn ergibt.

Zug um Zug werden auf diese Weise die komplizierten Nervenzellverschaltungen in den verschiedenen Regionen aufgebaut. Die von den Sinnesorganen ankommenden Erregungsmuster werden dabei benutzt, um immer stabilere und zunehmend komplexer werdende „innere Bilder“ in Form bestimmter Verschaltungsmuster in den verschiedenen Hirnregionen zu verankern. Das gilt nicht nur für das Sehen und die Verankerung innerer „Sehbilder“, sondern ebenso für das Tasten und die Herausbildung innerer „Tast- und Körperbilder“, für das Hören und die Entstehung entsprechender „Hörbilder“ und das damit einhergehende Verstehen und Verankern von Sprache, letztlich auch für das Interesse am Zuhören. Auf gleiche Weise entwickelt sich die Fähigkeit, aus Gerochenem innere „Geruchsbilder“ anzulegen und mit anderen Sinneswahrnehmungen und den dadurch erzeugten inneren Bildern zu verbinden. Ja sogar die von den Muskeln bei Veränderungen ihres Tonus’ zum Gehirn weitergeleiteten Signale werden benutzt, um innere Repräsentanzen von komplexen Bewegungsabläufen, gewissermaßen innere „Bewegungs- und Handlungsbilder“ in bestimmten Bereichen des Gehirns anzulegen und bei Bedarf abzurufen.

Diejenige Hirnregion, in der all diese komplexen, nutzungsabhängigen neuronalen Verschaltungen letztendlich zusammenlaufen, ist eine Region, die sich beim Menschen zuletzt und am langsamsten entwickelt und die auch bei unseren nächsten tierischen Verwandten weitaus kümmerlicher ausgebildet ist. Anatomisch heißt sie Frontal- oder Stirnlappen. Sie ist in besonderer Weise daran beteiligt, aus anderen Bereichen des Gehirns eintreffende Erregungsmuster zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und auf diese Weise von „unten“, aus tiefer liegenden und früher ausgereiften Hirnregionen eintreffende Erregungen und Impulse zu hemmen und zu steuern. Ohne Frontalhirn kann man keine zukunftsorientierten Handlungskonzepte und inneren Orientierungen entwickeln, kann man nichts planen, kann man die Folgen von Handlungen nicht abschätzen, kann man sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und deren Gefühle teilen, auch kein Verantwortungsgefühl empfinden. Unser Frontalhirn ist die Hirnregion, in der wir uns am deutlichsten von allen Tieren unterscheiden. Und es ist die Hirnregion, die in besonderer Weise durch den Prozess strukturiert wird, den wir Erziehung und Sozialisation nennen.

In gewisser Weise lässt sich die sukzessive Strukturierung neuronaler Netzwerke und synaptischer Verschaltungsmuster auf den verschiedenen Ebenen des sich entwickelnden Gehirns mit der Herausbildung der älteren und jüngeren Schichten einer Zwiebel vergleichen: Die sehr früh entstandenen neuronalen Verschaltungen für die basale Regulation der vielfältigen, im Körper ablaufenden Prozesse wie Atmung, Kreislauf oder einfache motorische Reflexe werden in den inneren „Zwiebelschichten“, dem Hirnstamm, verankert. Darüber, in den Bereichen, die wir als Thalamus, Hypothalamus und Limbisches System bezeichnen, bilden sich auf der Grundlage dieser im Hirnstamm angelegten Regelkreise komplexere Netzwerke heraus, die bei entsprechender Aktivierung nun ihrerseits in der Lage sind, die tiefer im Hirnstamm lokalisierten Regelkreise zur Steuerung einzelner Körperreaktionen zu einer konzertierten Aktion zusammenzubinden.

Ein typisches Beispiel hierfür bilden die durch eine Bedrohung bzw. durch Angst (und die damit einhergehende Aktivierung der Amygdala und anderer Bereiche des Limbischen Systems) im Hirnstamm ausgelösten, zu einer ganzheitlichen Körperreaktion zusammengebundenen Reaktionsmuster (stockender Atem, rasender Puls, Schweißausbruch, weiche Knie, flaues Gefühl in der Magengegend, angespannte Körperhaltung etc.). Das Gleiche gilt für die mit Lust und Freude, mit Verlust und Trauer oder anderen Affektmustern einhergehenden Körperreaktionen: Das Limbische System fungiert jeweils als ein übergeordnetes Metasystem, das den in den tiefer liegenden, früher herausgeformten und älteren Strukturen des Stammhirns lokalisierten Regelkreisen gewissermaßen „Sinn“ verleiht, indem es sie zu spezifischen konzertierten Reaktionen bündelt. In gleicher Weise lässt sich der Kortex als eine weitere, über dem Limbischen System liegende „Zwiebelschicht“ verstehen, von der aus die subkortikal generierten Aktivitäten geordnet, gelenkt und gesteuert werden. Der Neokortex und hier insbesondere der so genannte präfrontale Kortex bildet schließlich die letzte, äußere Schicht dieses „Zwiebelmodells“. Hier werden die im Kortex und in den subkortikalen Ebenen generierten Signalmuster aufeinander abgestimmt und in Form subjektiver Bewertungen und Entscheidungen benutzt, um die in diesen Bereichen ablaufenden Prozesse zu steuern.

Auf die Frage, wovon dieses Sinn-stiftende, für die Handlungsplanung verantwortliche Bewertungs- und Entscheidungssystem im frontalen Kortex gesteuert wird, gibt es eine überraschende Antwort: Durch die im Verlauf von Erziehung und Sozialisation in der jeweiligen Herkunftsfamilie und der jeweiligen Herkunftskultur gemachten Erfahrungen. Diese letzte, äußere „Zwiebelschicht“ wird also durch Kräfte geformt und strukturiert, die außerhalb des individuellen Gehirns in den in einem bestimmten Kulturkreis vorherrschenden Überzeugungen, Haltungen, Einstellungen und Vorstellungen zu suchen sind.

Alles, was die Beziehungsfähigkeit verbessert, ist sinnvoll

Aus „neurobiologischer“ Perspektive hat die Unterdrückung von Gefühlen, die Trennung zwischen Denken und Fühlen und die Abspaltung des Körpers vom Gehirn keinen Sinn. Besser verständlich und leichter erklärbar werden all diese Trennungen aber dann, wenn man sie aus „soziologischer“ Perspektive betrachtet, wenn man also danach fragt, welchen Sinn sie für den Zusammenhalt von Gruppen und für das Überleben des Einzelnen in einer menschlichen Gemeinschaft ergeben. In einer von Leistungsdruck und Konkurrenzdenken geprägten Gesellschaft, in der man bereits als Kind dazu angehalten oder zumindest ermutigt wird, sein „Ich“ durch die Abwertung und auf Kosten anderer zu stärken, sind solche Abgrenzungs- und Abspaltungsprozesse unvermeidlich. Für Menschen, die in eine solche, von Effizienzdenken, von Machbarkeitswahn und von Konkurrenzkampf geprägte Gemeinschaft hineinwachsen, hat weder Achtsamkeit noch Behutsamkeit irgendeinen Sinn. Wer unter solchen Bedingungen nicht schnell genug lernt, sein Denken vom Fühlen, seinen Körper vom Gehirn, sein „Ich“ vom „Wir“ abzutrennen, wird allzu leicht zum Verlierer, jedenfalls kurzfristig. Langfristig haben solche Einschränkungen der Beziehungsfähigkeit von Menschen bzw. der Konnektivität ihrer neuronalen Verschaltungen im Gehirn allerdings einen hohen Preis und fatale Folgen: Verlust der Offenheit und Kreativität, sich ausbreitende Verunsicherung und Angst, Zerfall sozialer Bindungen und Unterbrechung der transgenerationalen Weitergabe von Erfahrungen.

Das menschliche Gehirn ist auf Offenheit und Verbindungen Knüpfen, auf „Konnektivität“ angelegt.

Alles, was die Beziehungsfähigkeit von Menschen – zu sich selbst, zwischen ihrem Denken und Fühlen, zwischen Gehirn und Körper, aber auch zu anderen Menschen, zur eigenen Geschichte, zur Kultur und zur Natur – verbessert und stärkt, führt zwangsläufig zur Ausbildung einer größeren Konnektivität, zu einer intensiveren Vernetzung neuronaler Verschaltungen und damit auch zu einem komplexer ausgeformten Gehirn.

Gemessen an diesem Maßstab erscheint so manches, was in Schulen und Universitäten gelehrt wird, was im täglichen Zusammenleben geschieht und was uns in den Medien tagtäglich vorgeführt wird, als wenig sinnvoll. Aber es läßt sich ändern. Nur müsste man sich dazu darüber verständigen, welche gemeinsamen Ziele man eigentlich verfolgt. Und dann müsste man sich gemeinsam auf den Weg machen, diese Ziele umzusetzen.


Prof. Dr. Gerald Hüther

ist Neurobiologe und leitet die Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim / Heidelberg. Wissenschaftlich befasst er sich mit dem Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, mit den Auswirkungen von Angst und Stress und der Bedeutung emotionaler Reaktionen. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und populärwissenschaftlicher Darstellungen (Sachbuchautor).

Kontakt: Psychiatrische Klinik der Universität Göttingen, Von Seibold Str. 5, D-37075 Göttingen


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Der Artikel ist mit freundlicher Genehmigung entnommen aus Ausgabe 03/08 der Fachzeitschrift CO’MED aus dem Fachverlag für Complementäre-Medizin.
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