Interview mit Psychocoach Andreas Winter zum Thema Alkoholismus

Mühelos alkoholfrei werden: „Genuss statt Muss!“

 „Alkoholismus ist eine Folge von massiven Gefühlsverletzungen. Ist die Angst beseitigt und das Selbstwertgefühl wiederhergestellt, kann ein Ex-Alkoholiker trinken, wenn er möchte – doch er wird es nicht mehr aus der ‚Sucht‘ heraus tun.“ Andreas Winter, erfolgreicher Tiefenpsychologe und Autor des Psychocoach-Ratgebers „Der Geist aus der Flasche“, im Gespräch über seinen speziellen Ansatz im Kampf gegen den Alkoholismus.

Laut Statistik haben mehr als zehn Millionen Menschen in Deutschland Alkoholprobleme. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Winter: In der Hauptsache führt bei vielen Menschen gesellschaftlicher Druck zum Alkoholmissbrauch. Betrachtet man die enthemmende Wirkung von Alkohol, so liegt nahe, dass ein übermäßiger Alkoholkonsum darauf hindeutet, dass der Betroffene sich Erwartungsdruck und Ängsten ausgesetzt fühlt. Dies ist meines Erachtens eine Folge von massiven Gefühlsverletzungen im Kindesalter, wie etwa übermäßige Strenge der Eltern oder Traumatisierungen. Der Trinker versucht, sich endlich frei und unbekümmert, stark und unabhängig zu fühlen, was er ohne Alkohol nicht schafft.  

Besonders Jugendliche greifen immer häufiger und früher zur Flasche oder zu anderen Drogen. Würden Sie dies für eine neue Entwicklung halten, die es so noch nicht gab?

Winter: Gerade bei Jugendlichen zeigt sich ganz besonders deutlich, dass wir es beim Alkoholmissbrauch nicht mit einer Krankheit, sondern mit einem biografisch erklärbaren Verhalten zu tun haben. Dass Jugendliche versuchen, sich von althergebrachten Strukturen zu befreien, ist historisch nicht neu, wohl aber das Ausmaß dieser Befreiungsversuche. Alkoholexzesse mit anschließendem Krankenhausaufenthalt sind zum einen Denkzettel an die als moralisierend empfundenen Eltern, zum anderen die Flucht vor gesellschaftlicher Bevormundung. Die junge Generation lernt Freiheit durch die Medien kennen, wurde aber noch im autoritären Geiste der Nachkriegseltern erzogen. Dieses Schnuppern an der „grenzenlosen Freiheit“ ist es, was den Erwartungsdruck der Gesellschaft so sinnlos und damit so unerträglich erscheinen lässt. Das Austesten und Überwinden der eigenen Grenzen durch Drogen birgt damit die Möglichkeit einer Machterfahrung, die in Elternhaus und Schule offenbar nicht möglich war.

Bislang scheint Abstinenz das einzige therapeutische Mittel gegen die so genannte „Alkoholsucht“ zu sein. Was halten Sie von dieser Methode?

Winter: Das wäre so, als würde man einem vor dem Ertrinken Geretteten das Baden verbieten. Der Alkohol selbst wird bei einem Alkoholiker erst viel später zum Problem, wenn der Körper auf tägliche, extrem hohe Dosen eingestellt wurde. Der Grund, weshalb ein Mensch sich ständig betrinkt, das ist der eigentliche Alkoholismus. Genau den gilt es aufzulösen, dann besteht in Bezug auf Alkohol keine Gefahr des zwanghaften Konsums mehr. Ist die Angst beseitigt und das Selbstwertgefühl wiederhergestellt, kann ein Ex-Alkoholiker trinken, wenn er möchte – doch er wird es nicht mehr aus  der „Sucht“ heraus tun.

Worin besteht der Unterschied zwischen „Sucht“ und „Zwang“, und was ist der wahre Hintergrund übermäßigen Alkoholkonsums?

Winter: Der Hauptunterschied ist der, dass eine Sucht ein rein körperliches Verlangen darstellt, welches bei vergleichbaren biologischen Organismen auch vergleichbare Verläufe und Auswirkungen hat. Ein Zwang hingegen ist im Verhalten angesiedelt und gehört damit nicht in den körperlichen, sondern in den seelischen Bereich. Psychische Ursachen können aber nicht mit medikamentöser Behandlung aufgelöst werden, sondern nur mit geisteswissenschaftlichen Methoden. Damit wird der wahre Hintergrund des Alkoholkonsums noch einmal deutlich: Es ist eine tiefsitzende Angst, meist Versagensangst, die man bekämpfen will, damit man die eigenen Unsicherheiten  bzw. die Übermacht des gesellschaftlichen Drucks nicht länger empfindet. Für dieses Erleichterungs- und Freiheitsgefühl nehmen Alkoholiker sogar gesundheitliche Schäden in Kauf. Das rein körperliche „Trinken-Müssen“ kommt erst viel später zum Verlauf dazu.

Was würden Sie Angehörigen raten, die Anzeichen übermäßigen Alkoholkonsums bei Mitgliedern der eigenen Familie beobachten?

Winter: Auf jeden Fall darauf ansprechen, aber nicht verurteilen, kritisieren oder bevormunden, denn das ist der Auslöser zum Trinken. Die Angehörigen sollten versuchen, ihren eigenen Anteil am Verhalten des Alkoholikers zu erkennen. Fehlte etwa Geborgenheit, Solidarität, Lob, Respekt oder Entscheidungsfreiheit? Wodurch fühlte sich der Betroffene so unter Druck, dass er zu trinken begann?

Schon seit Jahrzehnten wird versucht, verschiedene Trinker-Typen zu differenzieren. Was gibt es hier für Unterschiede und was ist der Sinn solcher Typologien?

Winter: Es gibt die verschiedensten Typologien, die so gut wie alle quantitativ unterscheiden, also die Häufigkeit und die Trinkmenge untersuchen. Da gibt es etwa den Spiegeltrinker, der täglich zwei Promille hält, den Quartalstrinker, der sich nur zu Partys abschießt, oder den Gelegenheitstrinker, der auch mal das vierte Glas Wein nicht verschmäht. Doch all diese Unterscheidungen zeigen, wie hilflos die Medizin diesem wenig erforschten Phänomen gegenüber steht. Der Sinn dieser Einteilung lag vermutlich darin herauszufinden, wie weit fortgeschritten der Alkoholmissbrauch bereits ist. Unterscheidet man qualitativ, so wie ich es vorschlage, wird deutlich, dass es Trinker gibt, die trotz hoher Mengen an Alkohol, etwa täglich einem Liter Bier, weit weniger gefährdet sind als Jugendliche, die sich nur einmal im Monat halb bewusstlos trinken.

Trotz des Erfolgs Ihrer tiefenpsychologischen Methode begegnen Ihnen etablierte Schulmediziner gelegentlich mit Skepsis. Worin bestehen die Vorbehalte und was ist Ihre Antwort darauf?

Winter: Die etablierte Meinung der Schulmedizin ist, ein Alkoholiker dürfe nach dem Entzug niemals wieder ein Glas trinken. Sie beziehen sich dabei auf die rein körperliche Komponente, die aber bei einem Abstinenzler zu vernachlässigen ist, denn ein körperliches Verlangen nach Alkohol gibt es bei einem nichtadaptierten Menschen nicht. Doch solange nicht bekannt ist, aus welchem Grund der Betroffene trinkt, wird der Alkohol selbst für die Krankheitsursache gehalten. Das ist für mich moderner Aberglaube; ein Auto bleibt auch nicht wegen einer roten Ampel stehen, sondern weil der Fahrer bremst. Ein soziologisches Phänomen namens „Systemträgheit“ ist der Grund dafür, dass sich ein Mensch im Kollektiv nur schwer einer Veränderung stellt und von seinen bisherigen Ansichten löst. Medizinern, die ich im persönlichen Gespräch oder bei Vorträgen erreichen konnte, fiel es wesentlich leichter, den tiefenpsychologischen Ansatz zu verstehen.

Plakativ formuliert, könnte man Ihren tiefenpsychologischen Ansatz gegen den Alkoholmissbrauch als  „Aufklärung statt Abstinenz“ umschreiben. Wo sehen Sie die Vorteile und die Grenzen dieser Methode?

Winter: Der wichtigste Vorteil ist, dass mit dem neuen Ansatz der Alkoholismus wirklich aufgelöst werden kann. Der ehemalige Alkoholiker ist dann wieder voll sozial integriert und in seinem Verhalten zuverlässig und selbstwertstark. Ein weiterer Vorteil ist, dass Alkohol nicht gemieden werden muss. So scheut sich ein Arzt bislang, einem „trockenen Alkoholiker“ alkoholhaltige Medikamente, wie etwa einige Hustenmittel, zu verschreiben, weil er glaubt, damit einen Rückfall zu provozieren. Diese therapeutisch wenig hilfreiche Maßnahme kann entfallen, wenn der Betroffene wirklich aus seinem Verhaltensmuster befreit ist.
Erschwerend ist, dass ich mit dieser Methode ideologisch gesehen Neuland betrete und der behandelnde Arzt ein hohes Maß an Überzeugungskraft, Reflektionsvermögen und analytischem Geschick mitbringen muss, um beim Patienten erfolgreich zu sein.

Wie geschieht Ihre „Therapie“ in der Praxis, und ist dafür jeder geeignet?

Winter: Zum einen ist es tatsächlich gar keine Therapie, sondern eine Beratung. Bei dieser werden zunächst viele biografische Daten abgefragt und analysiert. Dann werden mit einem speziellen psychologischen Verfahren, das sich „Refraiming“ nennt, durch Traumatisierungen entstandene Ängste aufgelöst. Im Weiteren wird der Auslöser zum Trinken isoliert und werden anschließend Verhaltensalternativen zum Trinken verankert, mit denen der Betroffene Drucksituationen, Schwäche- und Einsamkeitsgefühle verarbeiten kann. Allerdings ist dieses Verfahren von einem hohen Maß an Freiwilligkeit und Verständnisfähigkeit des Betroffenen abhängig. Im Akutstadium eines Vollrausches oder bei einem durch Alkohol hirngeschädigten Korsakoff-Patienten kann die Methode nicht greifen.

Das Gespräch wurde im September 2008 geführt.