Prof. Dr. Harald Geißler Prof. Dr. Harald Geißler

1. Ausgangslage und Anliegen

Die bisherige Geschichte von Coaching ist zweifellos eine Erfolgsgeschichte. Das ist für viele ein Anlass, auch weiterhin auf eine positive Zukunft zu setzen. Aber es gibt auch kritische Stimmen. Sie weisen darauf hin, dass Coaching – gerade wegen seines Erfolgs – zu einem Catch-all- bzw. Containerbegriff geworden ist und in Gefahr steht auszubrennen (Geißler 2007). Diese Sorge erscheint berechtigt und führt zu der Frage, welche Konsequenzen mit Blick auf eine positive Zukunft zu ziehen sind. Um sie begründet zu beantworten, ist es not­wendig, zunächst einmal auf die historischen Anfänge zu schauen und die bisherige Entwick­lungsdynamik zu rekonstruieren.

Wirft man einen Blick auf die „Frühgeschichte“, also sozusagen auf die „Geburt“, „Kindheit“ und „Jugend“ von Coaching, fällt auf, dass Coaching seine Existenz nicht der „Elternschaft“ einer Theorie-Praxis-Verbindung verdankt, sondern ganz und gar ein Kind der Praxis ist. Für seine Entstehung waren die spezifischen sozio-ökonomischen Kontextveränderungen der 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts entscheidend. Sie lassen sich mit Verweis auf den globalisierungsbedingten Flexibilisierungs-, Innovations-, Kosten- und Qualitätsdruck privat­wirtschaftlicher und öffentlicher Organisationen, auf die Individualisierung der Gesellschaft sowie auf die Resubjektivierung der Arbeit umreißen. Es waren Veränderungen, die neue Be­darfe personenorientierter Beratung generierten und damit den Boden für eine Neuentwick­lung ermöglichten: Coaching. Dass sich diese Innovation am Markt schnell prächtig entwi­ckelte, lag nicht nur an der veränderten Bedarfslage, sondern gleichermaßen auch daran, dass Coaching sich – zumindest in seinen Anfängen – nicht als eine spezifische Methode, sondern als ein bestimmtes Setting definierte. Seine zwei zentralen Merkmale waren ein von der Organi­sation bezahltes Vier-Augen-Gespräch für Führungskräfte über berufliche Themen in Verbindung mit strikter Verschwiegenheit des Coachs (vgl. Looss 1991).

Dieser Ansatz, d.h. der Verzicht auf ein methodisch begründetes Selbstverständnis stieß zwar von Anfang an auf Kritik vor allem von Seiten wissenschaftlicher Reflexion. Es wurde darauf hingewiesen, dass es nicht ausreicht, sich deklamatorisch gegen Psychotherapie, Einzeltrai­ning und Expertenberatung abzugrenzen, sondern dass es notwendig ist, diese Abgrenzung mit Hinweis auf die Methoden, die für Coaching konstitutiv sind, substantiell zu konkretisie­ren. Ökologisch, d.h. mit Blick auf die sozio-kulturelle und vor allem wirtschaftliche Ent­wicklung hingegen erwies sich die Entscheidung, zumindest in der Frühentwicklung Coaching als Setting und nicht als Methode zu definieren, aber als goldrichtig: Denn mit dieser Ent­scheidung bot sich Coaching als ein Container-Begriff für unterschiedlichste methodische Füllungen an mit der Folge, verschiedensten Personengruppen – d. h. Trainern, Beratern und Psychotherapeuten mit unterschiedlichsten berufsbiographischen Hintergründen und konzeptio­nellen Vorstellungen – eine attraktive Marktnische anzubieten.

In dem so entstehenden und sich bald verschärfenden Verdrängungswettbewerb spielte Selbstmarketing durch Publikationen eine zentrale Rolle. Das dabei verfolgte strategische Ziel war, wie ein Pionier beim Betreten eines neuen Kontinents, möglichst viel Gelände mit eige­nen „Flaggen“ zu markieren. Es erschien deshalb wichtig, mit Rückgriff auf wissenschaftliche Theorien, die oft wie ein Steinbruch genutzt wurden, konzeptionelles Eigentum anzumelden. Auf diese Weise entstand eine evolutionäre Dynamik, die sich dadurch auszeichnete, dass einerseits versucht wurde, innerhalb des ursprünglichen Settings Coaching mit Bezug auf – möglichst vermarktungsattraktive – Methoden zu spezifizieren, und andererseits die Grenzen dieses Settings zu sprengen, indem man nicht mehr nur Einzelcoaching, sondern auch Grup­pen- bzw. Teamcoaching anbot, indem man neben freiwilligem Coaching auch verordnetes Coaching zuließ, indem man Führungskräften empfahl, ihre Mitarbeiter zu coachen, was nur möglich ist, wenn die Verschwiegenheitsverpflichtung des Coachs aufgeweicht wird, und in­dem man die Begrenzung auf die Zielgruppe der Führungskräfte und auf berufliche Themati­ken als obsolet erklärte (vgl. Greif 2008, Lippmann 2006, Migge 2005, Rauen 2005).

Diese Entwicklung lässt sich nicht zurückdrehen. Und das wäre auch nicht sinnvoll, denn es war eine positive Entwicklung, weil es in einer grandiosen Erfolgsgeschichte gelungen ist, Coaching zu einer Realität zu machen, die man sich nicht mehr wegdenken kann. Aber min­destens genauso sinnvoll ist es, sie nicht – nach dem Motto „mehr-desselben“ – einfach fort­schreiben zu wollen. Denn das würde zu einem gefährlichen Wildwuchs führen. Bildlich aus­gedrückt: Coaching hat die Entwicklungsphase seiner Kindheit und Jugend hervorragend ge­meistert und steht nun an der Schwelle des „Erwachsen-werdens“ mit der Entwicklungsauf­gabe einer diversifizierten professionellen Profilbildung. Ein erster Schritt in diese Richtung müsste sein, gegenüber der dschungelhaft unübersichtlich-wildwüchsigen Pluralität einerseits der vorliegenden Theorien bzw. Konzepte und andererseits Praktiken – quasi wie aus der Ad­lerperspektive – einen klärenden und wegweisenden Meta-Standpunkt (vgl. Birgmeier 2006, S. 185ff.) einzunehmen und zu kultivieren.

Es bietet sich an, bei der Begründung eines solchen Meta-Standpunkts für die „Vermessung“ des aktuellen Praxis­dschungels, d. h. der komplexen Gemengelage von Coaching und coachingverwandten Pra­xen, die doppelte Polarität von Nondirektivität/Prozessberatung versus Direktivität/Expertenberatung (Schein 2000) und Selbstthema­tisierung versus Kontextthematisierung (Greif 2008) zu wählen.

Coaching und seine Nachbarpraxen

Abb. 1: Coaching und seine Nachbarpraxen

Der Anspruch des vorliegenden Artikels ist, auf diesen Praxisdschungel ein strukturierend-klärendes Licht zu werfen und kritisch bilanzierend diejenigen Ergebnisse der kraftvoll-expansiven, aber auch wildwüchsig verlaufenden Entwicklungsgeschichte zu ermitteln, die Aussichten auf eine positive Weiterentwicklung versprechen. Dabei wird auf eine spezielle Quelle zurückgegriffen, nämlich auf die Audioaufnahmen von Coachingprozessen, die Coaches der Forschungsstelle Coaching-Gutachten (www.coaching-gutachten.de) eingereicht haben. Ihr besonderer Wert besteht nicht nur darin, in einem anspruchsvollen Prüfverfahren als gut oder sehr gut bewertet worden zu sein, sondern auch, dass sie die konzeptionelle Breite und Pluralität der aktuellen Coachingpraxis abdecken.

Den ganzen Aufsatz finden Sie auf den Internetseiten des Autors: 
http://www.coaching-gutachten.de/7_1_weitere_aufsaetze.htm


Zum Autor: Prof. Dr. Harald Geißler

Jg. 1950, Lehrstuhl für Berufs- und Betriebspädagogik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Leiter der Forschungsstelle Coaching-Gutachten. Vorstandsmitglied des Management Development Centers an der Helmut-Schmidt-Universität.  Durchführung vieler Projekte zur Organisations- und Führungskräfteentwicklung. Umfangreiche eigene Beratungs- und Coachingerfahrung.  

Universität der Bundeswehr
Fachbereich Pädagogik: Berufs- und Betriebspädagogik
Prof. Dr. Harald Geißler
Holstenweg 85, D-22043 Hamburg
Tel. 040-6541-2840, Fax 040-6540390
harald.geissler@hsu-hh.de
www.unibw-hamburg.de

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