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Zeichensprache im Coaching

Selbstvergewisserung in unsicheren Zeiten

Sabine Mertens

Im Coaching mit selbstgezeichneten Bildern werden Konflikte, Potenziale und Lösungs- bzw. Behelfsmöglichkeiten sichtbar. Ein Coaching-Prozess mit visuellen Resonanzen stößt Entwicklungsprozesse an und fördert langfristig tragfähige Entscheidungen. Zeichnungen spiegeln Erfahrungswissen aus dem Körpergedächtnis. Die vorgestellte Fallgeschichte handelt von einem, der auszog, Führungskraft zu werden, seinem vermeintlichen Burnout und einer irritierenden emotionalen Selbsterkenntnis.

„Erkenne dich selbst“ ist berechtigterweise der beständigste Rat der Philosophen über die Jahrtausende. Verantwortung für die eigenen Handlungen und Entscheidungen zu übernehmen, ist unbedingte Voraussetzung dafür, allerdings leichter gesagt, als getan. Auch der Umgang mit widrigen Umständen und die Einordnung sehr widersprüchlicher Gefühle gehören zur Selbsterkenntnis, ebenso wie die Integration der eigenen unbewussten Wünsche, die rational gesetzten Zielen zuwider laufen können.

Eigenhändig gezeichnete Bilder machen Unbewusstes sichtbar

Spontane Zeichnungen können eine große Hilfe bei der Selbstvergewisserung sein. Sie machen auch langfristig wirksame unbewusste Anteile der Persönlichkeit sichtbar. Der Zeichner gewinnt Selbstsicherheit, denn Bilder spiegeln zurück, was ist, was war, und was potentiell sein wird: Selbst widersprüchliche Phänomene stehen in Handzeichnungen scheinbar unvermittelt nebeneinander. Sie veranschaulichen die innere Vielfalt und Pluralität von Wahrnehmungen, Gefühlen, Einstellungen und Werten des Zeichners.

Ungesagtes, Latentes, Implizites tritt in den Bildern zutage, zusammen mit Mehrdeutigkeiten, Doppelbindungen und Paradoxa... Widersprüchlichkeit und Komplexität müssen wir Menschen nicht nur aushalten, sondern wir können sie uns zunutze machen. Oft ist eine Lösung, die den Namen wirklich verdienen würde, nicht zu haben, weil Probleme zu komplex und daher unlösbar sein können. Deshalb reicht bisweilen ein „Workaround“ (Behelf) aus, um einfach wieder handlungsfähig zu werden.

Dabei sind Resonanzbilder ein einfaches, immer und überall verfügbares Mittel. Ein Resonanzbild zu einem körperlichen Zustand, Gefühl oder Gedanken ist schnell gezeichnet. Die Beschäftigung damit hilft, die eigenen Stimmungen und damit verknüpfte körperliche Erregungszustände kennenzulernen, mitsamt ihren widerstreitenden Bedürfnissen, sei es z.B. nach Ruhe oder Kraftausübung. Man findet dabei sehr leicht heraus, welche inneren (oft überaus selbstkritischen) Überzeugungen in welchem Gemütszustand wirksam sind.

Erfahrungswissen und Körpergedächtnis

Malen und zeichnen kann jeder, denn der menschliche Zeichenfundus basiert auf Lebenserfahrung. Und so ist auch die Entschlüsselung von Zeichencodes eine Erkenntnisform, die im Menschen von Natur aus angelegt und daher für jedermann zugänglich ist. Jeglicher zeichensprachliche Ausdruck ist zwar einzigartig und individuell, gründet aber auf kollektiv überlieferten Formen und Strukturen, fundiert durch den menschlichen Wahrnehmungsapparat.

In den zeichensprachlichen, metaphorischen und symbolischen Encodierungen äußern sich sowohl individuelle Erlebnismuster, als auch allgemeingültige Aspekte. Wie physikalische Grundgesetze für alle gelten, so resultiert aus dem menschlichen Organismus ein körperlich fundierter Sinn für Angemessenheit, Konsistenz und Balance. Durch unsere Fähigkeit zur ästhetischen Wahrnehmung sind uns Maß und Mitte förmlich eingeschrieben. So sind Merkmale von gemalten oder gezeichneten Strukturen „primäre Erfahrungswerte menschlicher Wahrnehmung, sodass [z.B.] die Dreieckigkeit kein spätes Produkt einer verstandesmäßigen Abstraktion ist, sondern vielmehr eine unmittelbare Erfahrung, elementarer als das Aufzeichnen einzelner Details“ (Arnheim). Wir handeln aus Erfahrung, und Gefühle sind dabei Treiber mit vorschreibendem Charakter (Simon). Unser duales Nervensystem befähigt uns, ausgehend vom normalen Wachbewusstsein auch extreme Ausschläge zu erleben und durchzustehen. Den zentralnervösen Erregungszuständen zwischen Ekstase und totaler Entspannung entsprechen nach dem psycho-physiologischen Modell des Neurophysiologen Roland Fischer verschiedene Bewusstseinszustände. Diese wirken wiederum auf unsere Stimmungen zurück, welche wieder unser Denken und die Qualität unserer Schlussfolgerungen und Entscheidungen beeinflussen.

Irritierende Ich-Zustände visualisieren und transformieren

Im Alltag gibt es vielfältige Anlässe, sich durch das eigene oder das Verhalten anderer irritiert zu fühlen. Es lohnt sich immer, eine derart vom durchschnittlichen Wachbewusstsein abweichende Gereiztheit ins Bild zu setzen und herauszufinden, was dahinter steckt. Irritationen verbinden die Maler mit fest verdrahteten Verhaltens- und Konfliktmustern, mit spezifischen Erinnerungskonstellationen, die einer beliebigen Situation im Hier und Jetzt immer noch ihren Stempel aufdrücken. Irritationen verweisen immer auf ein (älteres) Grundthema.

Sie können – sofern wir ihnen auf den Grund gehen – eine heilsame progressive Dynamik auslösen, wie im Folgenden die spontanen Zeichnungen von Herrn G.

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Abb. 1 zeigt eine ganze Ansammlung von Skizzen, die beinahe wie ein Schaltplan seiner Emotionen anmuten. Herrn G. beschäftigten zu Anfang des Coachingprozesses seine Überlastung im Job und die Frage, ob er vielleicht unter einem Burnout leide.

Die Zeichnungen sind auf einer Papierrolle als freie Assoziationen ausschließlich zum Thema „Irritationen“ entstanden. Die Glühbirne (Abb. 2) steht für den Zeichner selbst und seine – gegen alle rationalen Erwägungen stehende – „Erleuchtung“, dass er gar nicht zur Führungskraft taugt, wie er lange dachte.

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Abb. 2: Erkenntnis

Diese Erkenntnis steht nicht nur seinem eigenen Vorsatz entgegen (Führungskraft werden), sondern auch unserem vereinbarten Coaching-Ziel. Ursprünglich sollte das Coaching Herrn G. darin unterstützen, sich durchsetzungsstärker als Führungskraft zu positionieren.

Seine Zeichensprache drückt nun genau das Gegenteil aus, eine Ungleichung: Herr G. ≠ Boss. Diese emotionale Selbsterkenntnis ist sehr irritierend, denn Herr G. hatte lange den Aufstieg zur Führungskraft als sein oberstes Ziel verfolgt und große (vergebliche) Anstrengungen unternommen, dieses Ziel zu erreichen. Auch sein Selbstwertgefühl wurde durch die Karrierepläne gespeist, und er hatte als Führungskraft in spe eine Sonderrolle gegenüber den anderen Mitarbeitern. Zunächst vertiefte sich also für Herrn G. die kognitive Dissonanz – ein Spannungszustand auf Grund sich widersprechender Überzeugungen und Erkenntnisse.

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Abb. 3: Schwebebahn

Die Wuppertaler Schwebebahn (Abb. 3), stellt die dazugehörige Emotion als „Schwebezustand“ dar. Sie steht hier symbolisch für den unterschwelligen Ich-Zustand der Unsicherheit, der sich über viele Monate hinzog, verbunden mit ängstlicher Grundgestimmtheit, Wutausbrüchen aus heiterem Himmel, ja insgesamt einem im Vergleich zum Alltagsbewusstsein etwas erhöhten Erregungszustand (siehe Fischer-Modell).

Das Gute (im Schlechten) dieses Zustands war, so Herr G., „dass ich mich für nichts entscheiden muss“ und „Wegfall der Geschäftsgrundlage“, kommentierte er später lachend, dass wir das ursprüngliche Coaching-Ziel nicht erreicht hatten.

Ein falsches Ziel behindert Entwicklung und Wachstum

Es kommt immer wieder vor, dass Menschen sich aus rein rationalen Erwägungen, aus Wunschdenken oder unter sozialem Erwartungsdruck bestimmte Ziele setzen und Entscheidungen treffen bzgl. Berufswahl, Partnerwahl, Gestaltung der Lebensumstände, Arbeitsplatzwechsel usw.

Zwischen falschen und passenden Zielen zu unterscheiden, ist m. E. eine der wichtigsten Voraussetzungen des Coaching-Erfolgs. Ein falsches Ziel zu verfolgen kostet langfristig viel Kraft und kann tatsächlich zu einem Gefühl des Ausgebrannt seins (Burnout) führen, denn es bedeutet, viel Kraft dafür aufwenden zu müssen, ein anderer sein zu wollen, der man nicht ist und auch nicht sein kann.

Bei ehrlicher Betrachtung stellte Herr G. fest, dass die Tätigkeiten und Handlungen, die mit einer Führungsposition verbunden waren, ihm „eigentlich uninteressant“ erschienen. Außerdem fühlte er sich nicht kompetent, sie auszuüben. Abstrakte Planungsaufgaben zu übernehmen, langfristige Ziele durch Führen, Motivieren und Kontrollieren anderer Menschen zu erreichen, vollkommen unabhängig und strategisch zu denken, auch wenn die Zustimmung des sozialen Umfeldes ausbliebe, sowie sich überdurchschnittlich mit dem Unternehmen zu identifizieren, das alles war seine Sache nicht.

Die Einsicht, dass es ihm tief innerlich nicht entsprach, Führungskraft in einer Linienorganisation zu sein, machte hier den eigentlichen Coaching-Erfolg aus. Diese Erkenntnis war für Herrn G. der Beginn einer neuen Lebensphase, in der er sich selbst und seine Bedürfnisse besser spüren konnte.

Seine eigentlichen Herausforderungen lagen gerade nicht im beruflichen Aufstieg auf der Karriereleiter, sondern in der persönlichen Weiterentwicklung und dem Erreichen einer dynamischen emotionalen Stabilität, die ihn befähigen würde, seinen eigenen Weg abseits der Standardkarriere zu gehen, die er selbst und seine Familie lange von ihm erwartet hatten. Herr G. musste vor allem Verantwortung für seine Gefühle übernehmen. Das geschah in dem Resonanzprozess mit sich selbst: Die selbst gezeichneten Bilder spiegelten Herrn G. Aspekte seiner selbst, die er vorher übergangen hatte.

Biographisches Lernen

Die Auseinandersetzung mit diesen spontanen Skizzen veranschaulicht exemplarisch, „dass nachhaltiges Lernen Irritationen und ihre reflexive Verarbeitung voraussetzt, mit dem Ziel der Wiedergewinnung biografischer Kohärenz“ (Schüßler). Die Chance des Zeichners, als Persönlichkeit zu reifen, bestand darin, seine Irritationen als Verweise auf unbearbeitete Themen in seiner biografischen Entwicklung wahrzunehmen und diese emotional aufzuarbeiten. Im biografischen Zusammenhang wurde sein bisheriges Verhalten begreifbar (Mertens, 2014).

Die Irritationsskizzen zeigen in ihrer Gesamtheit Herrn G.s aktuell wirksame emotionale Bandbreite. Da ist der tränenüberströmte achtjährige Schuljunge, der durch den Karriereweg des Vaters in ein fremdes Land versetzt worden war, dessen Sprache er nicht verstand (Ecole 1989). Seine chronologisch später angesiedelte Unsicherheit und Unfähigkeit, zu entscheiden, steht ihm gleich zweimal in Form der Schwebebahn vor Augen. „Der letzte Sargnagel“ (oben links in Abb. 1) ist Herrn G.s resignierter Kommentar zu einer aktuellen Situation bei der Arbeit; in einer benachbarten Skizze wendet eine Figur sich wütend davon ab (Grrr). Von der Wut deutet ein Doppelpfeil auf das metaphorische „Eigenständige Ich“, das – autark und selbstgesteuert – auf einem Segelschiff über das Meer schippert.

Zentral in dieser Skizzensammlung ist eine Art innere „Resonanzschleife“, ein bislang unbewusster Verlauf mit Richtungspfeilen, der symbolisch als Entwicklungsgeschichte gelesen werden kann: von der Erkenntnis, kein Vorgesetzter zu sein (≠ Boss), über Unentschiedenheit und Wut bis hin zum Skipper auf See, unterwegs in eine selbstbestimmte Zukunft.

Den Weg vom Ziel befreien und (wieder) handlungsfähig werden

Eigenhändig gezeichnete Bilder aktivieren den Souffleur im Orchestergraben des Bewusstseins. Unbewusste Anteile fließen aus der Hand, sprechen die Sprache der Phänomene, Zeichen und Symbole. Innere Bilder vom Kopf aufs Papier zu bringen und unvoreingenommen zu betrachten, schult die sinnliche Wahrnehmung mit besonderem Augenmerk auf die Verhältnismäßigkeit der Dinge. Wer sein eigenes (Augen-)Maß übt und sich mit den gewonnenen Erkenntnissen auf einen fortwährenden persönlichen Transformationsprozess einlässt, hat beste Chancen, in jeder Lebenslage das richtige Maß zu finden und angemessene Entscheidungen zu treffen.

Trotz der anfangs formulierten allgemeinen Zielvorstellung für das Coaching muss ein Coaching-Prozess zunächst ergebnisoffen bleiben, solange die wahren inneren Anreize dafür noch im Verborgenen liegen, denn der Wunsch, z.B. dem eigenen Selbst(wert)konzept zu entsprechen oder sozialem Druck genügen zu wollen, kann ausschlaggebend für das Festhalten an falschen Zielen oder Fehlentscheidungen sein, wie das Beispiel von Herrn G. zeigt.

Es ist eines der Hauptmerkmale in allen Phasen von Bildprozessen, dass Bilder akute Missverhältnisse preisgeben und den Zeichnern eine stimmigere Ordnung nahelegen. Mithilfe der Bilder findet man zu sich, Blockaden lösen sich auf, und die Selbstsabotage hat ein Ende.

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