Christian Maier Christian Maier

Keine Antwort ohne Frage

Einst gab es nur Fragezeichen. Sie lebten harmonisch und glücklich auf der einen Seite eines großen Hügels zusammen. Weil die Fragen sehr viel Spaß am Fragen hatten, vermehrten sie sich ständig: Es gab ernste Fragen, lustige Fragen, lange Fragen, kurze Fragen, tiefsinnige Fragen, oberflächliche Fragen. Aber irgendwann kam der Zeitpunkt, da gingen ihnen die Fragen aus. Da standen sie auf ihren hügelähnlichen Erhöhungen? und stellten die alles entscheidende Frage, die die Welt verändern würde, nämlich „Was ist denn auf der anderen Seite der Hügel, die unsere vielen Fragen aufgeworfen haben?“ Und sie begannen sich zu recken und zu strecken, um über den Hügel hinauszuschauen. Länger und länger dehnten sie ihre Hälse und plötzlich sprang eines der lang gestreckten Fragezeichen juchzend den Berg hinunter. Aber es war kein Fragezeichen mehr, es war nur noch ein Strich mit einem Punkt und weil es so laut rief und juchzte, sagten die anderen zu ihm, das muss ein Ausrufezeichen sein. Und so begannen auch andere Fragezeichen sich zu recken und zu strecken und als Ausrufezeichen die Hügel hinunterzulaufen.

Von da an gab es auf der einen Seite der Hügel nach oben laufende Fragezeichen und auf der anderen Seite nach unten rennende Ausrufezeichen, und das Leben wurde noch spannender und lustiger. Die Fragen, die den Hügel hinaufführten, bekamen Antworten, die wieder den Hügel hinunterführten. Die Ausrufezeichen vermehrten und vermehrten sich, und es gab bald mehr Ausrufezeichen als Fragezeichen.

Da geschah Folgendes: Die Ausrufezeichen sagten, wir brauchen keine Fragezeichen mehr, weil wir schon alles wissen. Wir wissen, was richtig ist, wir wissen, wie es geht, wir wissen, was zu tun ist, wir müssen niemanden mehr fragen. Das braucht nur Zeit und hält auf. Und so wurden die Fragezeichen immer mehr in den Hintergrund gedrängt, und im Laufe der Zeit gerieten die Fragen mehr und mehr in Vergessenheit. Und damit natürlich auch das Wissen über ihre Herkunft. Bald waren sich alle einig, dass Fragen etwas Unwichtiges seien. Aber nicht nur das, es wurde mehr und mehr verpönt, überhaupt noch Fragen zu stellen, und schließlich ganz verboten. Da aber ohne neue Fragen kein neues Wissen mehr entstand, drehten sich die Ausrufezeichen immer mehr im Kreis und gaben ihre einfachen und oft banalen Wahrheiten weiter, ohne dass es jemand wirklich interessierte. Es gab keine Frage dazu, das jauchzende Ausrufen beim Herunterlaufen des Berges war weggefallen, es gab auch keine Berge mehr, bis auf diesen einen in der Ferne, von dem man sich erzählte, den aber noch niemand gesehen hatte und nach dem zu forschen streng verboten war.

So rasten die Ausrufezeichen lang gestreckt, dünn und mit blassen Gesichtern durch die Gegend, und keiner schien zu wissen, warum eigentlich. Und Fragen stellte auch keiner, es gab keine Fragen mehr.

Eines Tages trafen sich heimlich einige Ausrufezeichen lange vor Sonnenaufgang, um sich auf den Weg zu dem verbotenen Hügel zu machen. Sie hatten gehört, dass es dahinter noch einige wenige Fragezeichen geben sollte. Sie wussten, dass das verboten war. Sie wussten auch, dass sie sich nicht einmal die Frage „was hinter dem Hügel wäre“ stellen durften, und das ließ manche sich zusammenkrümmen. Aber je mehr sich die Frage breit machte, umso stärker wurde die Anziehungskraft. Und als sie am Fuße des Hügels ankamen, begannen die ersten hinaufzusteigen und siehe da, es passierte nichts Schlimmes. Und als sie oben angekommen waren, wussten sie, was sie wirklich wollten. Sie wollten wissen, was jenseits der ganzen Wahrheiten ist, hinter die sie ständig ihr Zeichen setzen mussten. Und als sie nun oben auf dem Berg standen, sahen sie weit unten das Land der Fragezeichen, das nur noch wenig bevölkert war. Sie ahnten, dass das ihr Ursprung sein müsste, woher sie vor langer Zeit gekommen waren. Und vor lauter Aufregung stolperten sie und rollten den ganzen Hang hinunter. Dabei entdeckten sie eine neue Beweglichkeit, und unten angekommen, waren sie wieder in der Lage, die Form der Fragezeichen einzunehmen. Von diesem Moment an konnten sie ihre Form wählen. Ein neues Spiel entwickelte sich und führte zu einer neuen Form, dem Ausruhezeichen. Als Fragezeichen liefen sie so lange der Frage nach, bis sie sich langsam zu einer Antwort streckte und schließlich als Ausrufezeichen stoppte, gefolgt von einem erholsamen Schläfchen als Ausruhezeichen, einem schlichten Kreis mit einem Punkt in der Mitte.

 

Auszug aus dem Buch Spielraum für Wesentliches von Christian Maier:

 

Buch Spielraum für Wesentliches, Christian Maier

SPIELRAUM   FÜR WESENTLICHES 
Christian Maier 
19,50 EURO,  38,00 CHF 
192 Seiten
inkl. 3 Jongliertücher
1. Auflage   2007 gebunden
allesimfluss-Verlag
ISBN   978-3-9809167-2-1 

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In der nächsten Woche geht es weiter mit der inner game Reihe.
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