josef maiwald tj2014 

Systemisches Konsensieren

Das kreative Potenzial in Bedenken und Widerstand

Josef Maiwald

Von guten Demokraten wird verlangt, sich in Fällen, in denen sie mit ihrer Meinung zur Minderheit gehören, der Entscheidung der Mehrheit zu beugen. Dieses demokratische Prinzip wird hoch gehalten – meist mit dem Hinweis, dass Diktaturen ja noch ungerechter seien. Übersehen wird dabei, dass es „die eine“ Demokratie nicht gibt. Demokratische Systeme und Entscheidungsverfahren können mehr oder weniger gut sein. Wahlen nach dem üblichen demokratischen Mehrheitsprinzip haben durchaus methodisch eklatante Schwächen. Die gute Nachricht: es gibt längst bessere Alternativen!

Unabhängig von methodischen Überlegungen haben Sie sicher schon erfahren, dass selbst Abstimmungen in kleinen Gruppen oft große Unzufriedenheit folgt, da sich die Überstimmten als Verlierer fühlen und verärgert sind, denn ihre berechtigten Interessen wurden nicht berücksichtigt. Diese Unzufriedenheit führt häufig dazu, dass Beschlüsse boykottiert werden, rechtliche Schritte folgen, und dass im Extremfall die Gruppe bei ihrer Aufgabe blockiert wird.

Mit Systemischem Konsensieren gewinnt jeder

Vor der kurzen Methodenbeschreibung von Systemischem Konsensieren (SK) möchte ich die wichtigsten Vorzüge nennen, die ich aus 10-jähriger Praxis als Anwender von und Ausbilder für Systemisches Konsensieren bestätigen kann:

  • SK ist außerordentlich variabel und kann je nach Komplexität, Fragestellung und Tragweite des Ergebnisses situativ angepasst werden
  • Einwände oder Widerstände gegen vorhandene Vorschläge werden genutzt, um tragfähigere Vorschläge zu erarbeiten.
  • Durch SK entwickelt sich ein konstruktives Klima in der Gruppe, das rücksichtsvolle Lösungen begünstigt; das Zusammengehörigkeitsgefühl wird gestärkt.
  • Eine Entscheidung im Sinne der gemeinsamen Ziele und Werte sowie eine größtmögliche Annäherung an den Konsens werden möglich.
  • Die Kreativität und kollektive Intelligenz der Gruppe wird genutzt.
  • Oft findet die Gruppe zu einer kreativen Synergielösung, die zu erfolgreicheren Maßnahmen führt, als das, was einzelne Gruppenmitglieder davor im Sinn hatten.
  • Es kommt immer zu einer Entscheidung. Vetorechte gibt es nicht, eine Blockierung ist nicht möglich.
  • Nicht nur die Besprechungskultur ändert sich nachhaltig. Ob in Familie, Verein, Unternehmen, auch Arbeitsklima und Miteinander bessern sich maßgeblich.

Einräumen muss ich allerdings, dass sich meine Erfahrungen auf Gruppen von unter 100 Personen beschränken. Ob sich die positiven Effekte auch bei einer deutlich größeren Personenzahl – wie etwa bei Bürgerentscheiden - zeigen, muss erst noch geprüft werden.

Eine kurze Anleitung

SK entwickelte sich aus Überlegungen von Siegfried Schrotta und Erich Visotschnig, die als Systemanalytiker für IBM tätig waren. Mit ihrem, im EDV-Kontext geschulten systemischen Blick, fiel ihnen auf, dass Entscheidungsprozesse in Gruppen, die meistens auf die übliche Mehrheitsentscheidung hinauslaufen, systembedingt eine negative Dynamik entwickeln; Dissens und Streit werden begünstiget. Es scheint also fast normal zu sein, dass sich die Teilnehmer einer Diskussion in unterschiedliche, oft unversöhnliche Lager spalten. Die Kombination aus persönlichem Ehrgeiz, sich durchsetzen wollen und die methodische Herangehensweise ist dafür prädestiniert.

Widerstand ernst nehmen und als kreatives Potenzial nutzen

SK unterstützt das fatale Konkurrenzprinzip und den Durchsetzungswillen nicht (vgl. auch Artikel „Gemeinsinn macht Sinn“). SK setzt auf rücksichtsvolle Entscheidungen, die alle mittragen können. Es geht also nicht darum, abweichende Meinungen per Mehrheitsbeschluss niederzumachen. Die allen SK-Methoden und SK-Werkzeugen zugrundeliegende Basis ist: Widerstand ernst nehmen und als kreatives Potenzial nutzen.

Die Herausforderung: Diese Grundhaltung wirklich zu verinnerlichen und Bedenken und Gegenargumente nicht als hinderliche Bremsblöcke zu empfinden ist nicht leicht. Durch SK bietet sich aber eine praktikable Methodik, bei der die Beteiligten immer wieder erleben, dass die vorgebrachten Bedenken ein guter Prüfstein und Stresstest für Lösungsvorschläge sind. Und häufig gelingt es, gerade durch die Gegenargumente gute Vorschläge deutlich zu verbessern.

Beispiel: Dimmer

Hier eine Analogie aus der Elektrotechnik: Sie haben sicher schon einen Dimmer bedient, der die Helligkeit von Lampen reguliert. In Haushalten hierzulande beträgt die Spannung 220 Volt. Durch den Dimmer regulieren Sie den elektrischen Widerstand. Je geringer der Widerstand, desto heller leuchtet die Lampe.

In Gruppen ist es ähnlich: die beteiligten Menschen haben eine bestimmte Zeit und Energie zur Verfügung. Statt, wie üblich zu versuchen, die Motivation (Spannung) zu erhöhen, ist es genauso sinnvoll, Hürden und Hemmnisse zu entfernen (Widerstand verringern). Genau hier setzt SK an. Bedenken und Widerstände werden aktiv aufgegriffen und nach Möglichkeit integriert.

Hier die Grundstruktur, die nach Bedarf verkürzt oder ausgebaut werden kann:

1. Formulieren einer geeigneten Fragestellung
2. Suche, bzw. Erarbeitung von Lösungsoptionen
3. Bewertung der Vorschläge, damit Messung des Konfliktpotenzials
4. Meinungsbild
5. ggf. strukturierte Diskussion auf der Basis des Meinungsbildes
6. Entscheidung der Gruppe (die, je nach der formalen Kompetenz der Gruppe, auch eine Empfehlung an Entscheider sein kann)

Entscheidend beim SK ist, dass über Lösungsoptionen nicht wie beim Mehrheitsverfahren abgestimmt wird. Beim SK bewertet jedes Gruppenmitglied jede Alternative, bei der Standardversion auf einer Skala von 0 bis 10. Da das Konfliktpotenzial gemessen werden soll, bedeutet 0 „es spricht nichts dagegen“, 10 „maximaler Widerstand, kommt für mich nicht in Frage“, die Zwischenwerte erlauben eine beliebige Abstufung.

Die Excel-Tabelle zeigt so ein Meinungsbild. Bei diesem Fallbeispiel ging es um die Lösung eines langjährigen Disputes, ob und wie die Wege in einem Park neu gestaltet werden sollen.

josef maiwald 190628 tabelle

Für den Lösungsprozess förderlich ist, dass relativ früh nach der Sammlung der Optionen eine Bewertung stattfinden kann. Das Meinungsbild zeigt nicht die Entscheidung, sondern den aktuellen Diskussionsstand. Die vielen hohen Werte für die Vorschläge „Hängebrücke“ und „Tunnel“ zeigen klar, dass diese Optionen kaum Chancen haben. Die Möglichkeit, „alles so lassen“ ist ebenso durchgefallen. Folglich zeichnet sich die Lösung in der ersten Reihe, ggf. in Kombination mit anderen, hochakzeptierten als realisierbar ab.

Derart gestaltete Lösungsprozesse werden von den Beteiligten als fair, transparent und fruchtbar erlebt. In SK-erfahrenen Gruppen ergibt es sich, dass gar keine Zahlen mehr zur Bewertung erhoben werden und das Verfahren immer weiter abgekürzt wird. Die zweitschnellste Variante ist die so genannte Einwandfrage: „Ich schlage vor … - gibt es dagegen Einwände?“. Wenn diese Frage ernst gemeint ist und keine Einwände geäußert werden, kann man sich einigermaßen sicher sein, dass alle mitgehen. Dem Argument „Ich hätte Euch gleich sagen können, dass das nicht funktioniert, aber ich war in der Minderheit“ ist die Basis entzogen.
Die schnellste Möglichkeit ist achtsamer Umgang mit möglichen Bedenken und Widerständen: Gibt es Teilnehmer, die beispielsweise die Stirn runzeln oder skeptisch schauen?

Leider kann ich jetzt nicht sehen, ob Sie beim Lesen zustimmend genickt oder eher skeptisch geschaut haben. Doch würde es mich wundern, wenn Sie jetzt keine Fragen hätten. Die Ausbildung zum SK-Moderator dauert ja auch mehrere Tage. Und sogar gestandene Trainer und Mediatoren sagen, dass fünf Tage eher zu wenig sind, da SK vielfältige Möglichkeiten bietet. Es ist nicht ganz einfach, komplexe Lösungsprozesse so einzufädeln, dass sie möglichst schnell und mit wenig „Geburtswehen“ zu guten Ergebnissen führen, aber es ist lohnend!

Sind Sie jetzt neugierig geworden? Vielleicht mögen Sie noch mehr über SK lesen oder eine Veranstaltung besuchen? Es würde mich freuen. Denn die oben genannten Vorteile sprechen meines Erachtens für sich.

Mehr…

Bildnachweis: Josef Maiwald / Detlef Korus 



 

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