Kontrollverlust als Weg zur Selbstführung
Warum Führung manchmal erst dann gelingt, wenn Routinen scheitern – und wie Trainer diesen Moment nutzbar machen können.
Die Szene, die alles dreht
Ein CEO sitzt im Workshop, sichtlich angespannt. Die Agenda ist klar, die Erwartungen auch. Doch plötzlich kippt die Situation: Ein Teammitglied stellt eine unerwartete Frage – keine Kritik, sondern eine Irritation, die den Boden unter den Füßen wegnimmt. Für Sekunden entsteht Stille. Man sieht: Da bricht etwas auf. Der „Chef“ hat den Plan verloren.
Viele Trainer kennen solche Momente: Eine eingeübte Rolle, eine sichere Routine, eine durchstrukturierte Agenda – und plötzlich läuft etwas quer. Was wie Kontrollverlust aussieht, ist oft der Beginn echter Selbstführung.
Kontrollverlust – kein Defizit, sondern Ressource
Im klassischen Führungsbild galt lange: Stärke zeigt, wer nie schwankt. Doch die Realität von Transformationen zeigt uns etwas anderes:
- Stabilität wird nicht durch Planbarkeit erzeugt, sondern durch Haltung im Unplanbaren.
- Führung entsteht nicht in Routinen, sondern im Umgang mit ihrem Bruch.
Gerade im Training oder Coaching sind das die wertvollsten Momente: Wenn Teilnehmende erleben, dass sie in der Unsicherheit handlungsfähig bleiben können.
Drei Interventionen, die Irritation produktiv machen
1. Der Entscheidungswürfel – Wenn Zufall den Plan ersetzt
Statt eine klassische Entscheidungsmatrix auszufüllen, lasse ich Teilnehmende ihre Optionen nummerieren (1–6). Dann kommt der Würfel ins Spiel: „Ihr müsst die Zahl nehmen, die fällt – es sei denn, ihr widersprecht bewusst.“
👉 Wirkung: Sofort taucht die Frage auf, wo man Verantwortung übernehmen will – und wo man sich vom Zufall treiben lässt. Kontrollverlust wird greifbar, Selbstführung sichtbar.
2. Die Schweigeminute im Chaos – Ruhe statt Reaktion
In einer hitzigen Diskussion bitte ich die Gruppe: „Eine Minute – niemand sagt etwas.“ Hände weg von Laptops, keine Notizen. Nur Atmen.
👉 Wirkung: Erst kommt Nervosität, dann Klarheit. Die Erkenntnis: Wer Stille aushalten kann, führt anders – mit weniger Reflex, mehr Bewusstsein.
3. Der Perspektiventausch – die Welt mit fremden Augen sehen
Teilnehmende beschreiben eine konkrete Entscheidungssituation. Dann wechseln sie in eine fremde Rolle: „Du bist jetzt dein unbequemster Mitarbeiter / die skeptischste Kundin / dein innerer Kritiker.“
👉 Wirkung: Das Bekannte verliert seine Selbstverständlichkeit. Routinen werden brüchig – und genau dort entstehen neue Handlungsoptionen.
Warum das wirkt
- Erfahrung statt Theorie: Teilnehmende spüren direkt, wie es ist, die Kontrolle zu verlieren – in einem sicheren Rahmen.
- Selbstführung statt Fremdsteuerung: Es geht nicht um „richtige Antworten“, sondern um das Vertrauen, sich selbst zu steuern.
- Übertragbarkeit: Wer diesen Moment im Training erlebt hat, erkennt ihn auch im echten Leben schneller – und kann ihn produktiv nutzen.
Ein literarischer Spiegel
In meinem Romanprojekt habe ich diese Erfahrung in eine Geschichte gegossen: Ein CEO verliert die Kontrolle über sein Unternehmen – und entdeckt in der Begegnung mit ungewöhnlichen Gesprächspartner (inspiriert von „Alice im Wunderland“), dass wahre Transformation im eigenen Denken beginnt.
Auch das ist eine Form von Training: nicht durch Modelle, sondern durch Metaphern und Irritationen Räume zu öffnen, in denen neue Perspektiven entstehen.
Fazit für die Praxis
Kontrollverlust ist kein Scheitern, sondern der Stoff, aus dem Entwicklung entsteht.
Als Trainer und Coaches können wir diesen Moment bewusst inszenieren – oder zumindest den Mut haben, ihn nicht sofort zu glätten.
Denn Selbstführung zeigt sich nicht darin, ob jemand den Plan beherrscht, sondern darin, ob er oder sie im Chaos handlungsfähig bleibt.
Bildnachweis: HansJörg Schumacher